Rezension von Alban Schraut – Juli 2022
Herausforderungen und Antworten
Die Herausforderungen an unsere Gesellschaft werden immer komplexer und substantieller. Corona, Ukraine-Krieg, Energiekriese, Klimakatastrophe und die aktuellen und evidenten künftigen Folgen machen auch vor den Schultoren nicht halt. Wie können Schulen auf diese Herausforderungen reagieren?
Der Blick über den Tellerrand über den eigenen (reformpädagogischen) Idee hinaus kann diesbezüglich den Horizont weiten, pädagogische Gemeinsamkeiten und didaktische Ergänzungsmöglichkeiten entdecken lassen und zum Denken und neoreformpädagogischen Handeln anregen:
Welche Kompetenzen sollen Kindern im 21. Jahrhundert an die Hand gegeben werden? Wie muss Schule dementsprechend konfiguriert werden? Wie kann ein erprobtes reformpädagogisches Konzept hundert Jahre nach seiner Kompilierung heute aussehen?
Die jüngste deutschsprachige deutsche Publikation zur Jenaplanpädagogik (2020) gibt auf diese Fragen Antwort und setzt den Fokus – heute wichtiger denn je – auf „Zusammenleben lernen“, wie auch der Untertitel dieses Buches lautet.
Theoriebasiertes Praxisbuch
„In allen Gesprächen, die wir während der arbeit an diesem Buch führten,wurden wir immer wieder nach einem Praxsbuch gefragt. Über die Theorie [des Jenaplans] ist bereits so viel geschrieben worden, aber das Umsetzen in die alltägliche Schulpraxis ist eine schwierige Aufgabe“. (a.a.O. 5.9) Die beiden Autoren Freek Velthausz und Hubert Winters arbeiteten viele Jahre lang selbst als Jenaplanlehrer und Schulleiter, sodann bis heute als Begleiter, Ausbilder, Schulentwickler und Dozenten. Sie nahmen diese Fragen ernst und legten mit ihrer Publikation ein theoriebasiertes und schulpraktisch erprobtes und auf die Zukunft ausgerichtetes Jenaplankonzept als Antwort vor.
Die Dreiteilung des Werkes
Dieses Buch beihaltet eigentlich drei Bücher!
Teil 1 trägt den Titel „Jenaplan kennen“. Die Autoren reflektieren die Entstehung des historischen Jenaplans, die Trans-mission dieser reformpädagogischen Idee in die Niederlande, die Gründung der niederländischen Jenaplanschulen und die administrative Organisation der Jenaplan-schulen in den Niederlanden heute durch die Niederländische Jenaplanvereinigung (njpv). Dieser Teil des Buches ist auch für deutsche Leser hoch interessant, weil es beispielhaft zeigt, dass es einzelne Personen sind, die mit ihrem Team neue Akzente setzen, Kollegien zum Mitdenken und Umgestalten anregen, Mitstreiter*in-nen gewinnen, die Administration über-zeugen und das Konzept an aktuelle und zukünftige Herausforderungen anpassen, ohne den kritischen reformpädagogischen Blick auf die Gesellschaft zu vernach-lässigen.
Das theoretische Fundament dazu bilden die „20 Basisprinzipien“, die Kees Both und Kees Vreugdenhill in den 90er Jahren entwickelt hatten. Die Autoren schreiben den Jenaplanschulen „Qualitätsmerk-male“ zu: Sie sind erfahrungsorientiert, entwicklungsorientiert, kooperativ, welt-orientiert, kritisch und sinnsuchend und zeigen sich konkret in „sieben Kernaktivitäten“, die jeweils über sieben Indikatoren operational und unterrichts-praktisch sichtbar werden.
Teil 2 ist mit „Jenaplan gestalten“ bezeich-net. Hier werden die [drei] Jenaplankern-qualitäten der Niederländischen Jenaplan-vereinigung erläutert und mit Erklärung, Beispiel und `Checkliste´ ergänzt. „Im Jenaplankonzept stehen Beziehungen im Mittelpunkt“ konstatieren die Autoren zu Beginn des zweiten Teiles. Auf die Schüler*innen bezogen lauten die Kernqualitäten: „Das Kind in der Beziehung zu sich selbst“, „Das Kind in der Beziehung zu den anderen“ und „Das Kind in der Beziehung zur Welt.“ Zunächst erklären die Autoren, was mit den Kernqualitäten überhaupt gemeint ist; diese werden dann ganz konkret an einem Beispiel dargestellt und schließlich über die Checkliste für die Lehrerhand evaluierbar gemacht.
Teil 3 blickt nach vorne und ist mit „Jenaplan werden“ betitelt. Er bietet in 19 Unterpunkten „drei Schritte zu mehr Jenaplan: gut – besser – am besten“, wie die Autoren schreiben. „Eine pädagogische Schule“, „Gruppierungsformen“, „Mitein-ander sprechen“, „Zusammen feiern“. „Räume einrichten“, „Wochenplan“, Kur-se“, „Zeugniserteilung“, „Stammgruppe“, „Eltern“, „Sinngebung“ sind nur einige der Unterpunkte, welche die Autoren auflisten. Alle Unterpunkte werden in drei Qua-litätsstufen „gut“, „besser“, „am besten“ beschrieben, so dass jede/r Leser*in den eigenen Unterricht bzw. die eigene Schule nach reformpädagogischen Gesichtspunk-ten und Qualitätsstufen einschätzen kann.
Das Kapitel schließt mit dem Beitrag „Entwicklung von Stammgruppen bzw. Schulen in Richtung Jenaplan“ – was nichts Anderes bedeutet, dass Lehrerinnen und Schulleiterinnen, die den Jenaplan noch nicht (so gut) kennen, einen Einstieg in dieses reformpädagogische Konzept finden bzw. an der Verfeinerung arbeiten können. Das Buch endet mit einigen „Tipps für Zuhause“ für Eltern und Erziehungs-berechtigte, was die Praxisorientierung des Werkes nochmals eindrücklich unter-streicht.
Gestaltung
Die Autoren verstehen es, ein komplexes Schulkonzept auf rd. 180 Seiten im quadratischen Format von 23 cm Seitenlänge auch ästhetisch zugänglich zu machen: Rund 50 großformatige Fotos und Bilder von lernenden Kindern sowie rd. 30 Schaubilder, Tabellen und Listen lockern den Text auf und untermauern das geschriebene Wort auf anschauliche Weise. Die oben angesprochene Drei-gliederung des Buches (Jenaplan kennen, Jenaplan gestalten, Jenaplan werden) spie-gelt sich in der Kennzeichnung der Seiten in den entsprechenden Farben blau, violett und grün wider. Dass das Buch mit festem Buchdeckel, stabiler Fadenbindung und Lesebändchen versehen und auf 150g. starkem Papier gedruckt ist, versteht sich von selbst, wenn Gehalt und Gestalt des Buches auf „Qualität“ zielen.
Dank
Den beiden Autoren Freek Velthausz und Hubert Winters sei für die Mühe gedankt, dieses Buch 2014 in holländischer Sprache geschrieben und auf der Konferenz der Nie-derländischen Jenaplanvereinigung (njpv) vorgelegt zu haben. Die Publikation gab den niederländischen Jenaplanschulen einen kräftigen Schub nach vorne, insbesondere durch die Aussage der Autoren: „Mit diesem Buch wollen wir Menschen inspirieren, sich für einen Unterricht zu entscheiden, der Kinder auf eine auch für uns noch unbekannte Zukunft vorbereitet.“ (a.a.O.S.9)
Drei deutsche Lehrer, die des Nieder-ländischen mächtig sind, an Jenaplanschu-len arbeite(te)n, die also mit diesem reformpädagogischen Konzept bestens vertraut sind und die zudem noch die niederländischen Autoren persönlich kennen, stellten sich der Aufgabe, das Buch in die deutsche Sprache zu übersetzen. Unter der Federführung von Hans Peter Schröder legten er, Barbara Traxler und sowie Dr. Hartmut Draeger eine exzellente Übersetzungsarbeit vor. Die Leser*innen werden es ihnen danken!
Leseempfehlung
Diese erhellende Publikation kann jedem/r Lehrerin, jedem/r Schulleiterin, aber auch interessierten Studierenden, Eltern und Erziehungsberechtigten empfohlen und insbesondere auch dem Schulauf-sichtspersonal respektive Menschen der Schulpolitik anvertraut werden. Das Buch ist im Wortsinn eine „Hand-Reichung“ für eine reflektierte Schulpraxis, den konkreten Unterricht, ein ereignisreiches Schulleben und pädagogisch orientierte Schulkultur.
Bibliographie
Velthausz, Freek; Winter, Hubert 2020: Jenaplanschule. Zusammenleben lernen, Übersetzung in die deutsche Sprache durch Barbara Traxler, Hans Peter Schröder und Hartmut Draeger; hg. durch Jenaplan Advies & Scholing, Echten / Internationales Zentrum für reformpädagogische Schulen (NL); ISBN: 978-90-9033545-2
Bestellt werden kann das Buch über die E-Mail-Adresse: hubert@hetbovenveen.nl für 29,50 €.