Rezension von Jürgen Göndör E-Mail


Pehnke, Andreas (Hrsg.):                                 Reformpädagogik aus Schülersicht. Dokumente eines spektakulären Chemnitzer Schulversuches der Weimarer Republik.


Schneider-Verlag, Hohengehren 2002.
Grundlagen der Schulpädagogik Band 43, Jahresgabe des WEE
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Heute ist der Begriff 'Schulreform' durch den inflationären Gebrauch und durch die einseitige Inanspruchnahme von Veränderungen der Schulwirklichkeit durch die Schul- bzw Kultusministerien zu Lasten der Schüler und Lehrer im Misskredit geraten. 'Jede Woche werde eine neue Sau durchs Dorf getrieben!' - Dieser Satz kennzeichnet den Unmut an der pädagogischen Basis und auch die Resistenz von Alltagsunterricht gegen diese 'Reformen von oben her', gegen die 'Implimentierung' immer weiterer pädagogischer Veränderungen durch die Ministerien. Nur allzu oft hat das pädagogische Bodenpersonal erfahren, dass ihre Wünsche nach Veränderungen abgebügelt wurden und andererseits in einem Jahr zeitintensive Aufgaben abverlangt wurden, die wenige Monate darauf das Papier nicht wert waren, auf dem sie geschrieben waren.

Anders war offensichtlich die Zeit der Reformpädagogik. Hier gab es offensichtlich eine breite Zustimmung des 'Bodenpersonals' zu Veränderungen der Schule. Zugegeben, die bestehende Schule war die des Kaiserreiches und lebte von militärischer Disziplin im Klassenraum, Prügelstrafe war an der Tagesordnung und die Inhalte staatstragend durchseucht. Ehre und Vaterlandsliebe standen in den Erziehungszielen ganz oben an. In der Schule wurde das 'Untertan sein' im Obrigkeitsstaat eingeübt. Auf diesem restriktiven Boden gedieh im ausgehenden 19. Jahrundert der Gedanke, dass Schule anders sein müsse. 'Vom Kinde aus' wurde Schulen neu gedacht und viele progressive Ideen geisterten in den Köpfen der Pädagoginnen. Die staatliche Schulaufsicht war noch nicht im heutigen maße formiert und so gab es landauf landab Nischen, in denen pädagogisch experimentiert wurde.

Nicht überall waren die Versuche so spektakulär wie z.B. in Berlin, in der Schulfarm Scharfenberg oder in Hamburg in der Versuchsschule in der Telemannstraße (um nur einige Beispiele zu nennen) - oder eben in Chemnitz in der 'Gruppe Müller'. Auch in Chemnitz fiel die Reformpädagogik nicht vom Himmel. Pehnke stellt die 'Entwicklungsbedingungen der Chemnitzer Versuchsschulpädagogik an den Anfang seiner Dokumentation. Wiedereinmal wird deutlich, wie der Krieg, der 'Vater aller Dinge' die reformpädagogischen Ansätze von 1912-1914 zum Erliegen bringt. Nach dem 2. Weltkrieg war davon nichts mehr übrig - erst nach fast 60 Jahren ermöglicht die vorliegende Dokumentation von Pehnke ein differenziertes Bild der Ansätze „vom Kinde her“ nachzuvollziehen und das Zerrbild der Reformpädagogik (schwülstiges Weltsicht und Wegbereiter des Nationalsozialismus) zu korrigieren.

Im Gegensatz zu heute wurden diese Schulreformen von unten nach oben durchgeführt. Im Beispiel der Gruppe Müller (und nicht nur hier) auch mit der Zustimmung der Kinder und der Eltern. Diese wurden nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, die mit geschickter Konferenzdidaktik in der 'Schulkonferenz (in der die Lehrer die Mehrheit gegenüber Schülern und Eltern haben und im Pattfall der Schulleiter entscheidet). Die Zustimmung der Betroffenen war grundlegend für die Versuchsschule, in der sich „das ganze Kollegium einer Schule (der damaligen Humboldtschule sich bereit erklärte, die Schularbeit im Sinne der neupädagogischen Forderungen zu treiben. Vor allem wohl, weil sich an dieser Versuchsschule kein auf der Basis eines freiwilligen Zusammenschlusses reformpädagogisch aufgeschlossenes Lehrerteam zusammenfand, sondern sich das bisherige Kollegium der Mädchenabteilung der 21. Bezirksschule (Humboldtschule) mehr oder weniger widerstrebend sich entschloss, die Schularbeit im Sinne reformpädagogischer Bestrebungen zu gestalten.“ (S. 17) Die Eltern hatten mit „deutlicher Mehrheit“ ihre Zustimmung signalisiert (S. 18) Die Meinung der Kinder zu dieser anderen Schule lässt sich in zahlreichen Zeugnissen, die A. Pehnke zusammengetragen und ausgewertet hat, ablesen (S. 56 ff). Aufgenommen wurden nur Kinder, die sich freiwillig meldeten. (S. 43)

Wie in vielen reformpädagogischen Schulen angestrebt (Summerhill, Waldorf, Schullandheime/Internate, ...), aus finanziellen Gründen aber nur sehr eingeschränkt umgesetzt, war die Humboldtschule keine Schule des finanzkräftigen Bürgertums oder gar der pädagogisch informierten Bildungselite, sondern „mehr als 80 %“ (S. 24) waren schlicht Arbeiterkinder. Eine damals noch mögliche und durchgeführte „empirische Erhebung zur Schülerpopulation“ (S. 35ff) gibt einen bemerkenswerten Einblick in die Familien-, Wohn- und Lebensverhältnisse der Kinder. Darüber hinaus wird über die Kinder-Erwerbsarbeit berichtet. Der Jahresbericht Müller macht eindringlich deutlich, wie der Zwang zur Mitarbeit und die Ausbeutung der Kinder durch die eigenen Eltern jede Lernmotivation aushöhlt und die Kinder so systematisch zu „Lug und Trug“ (S. 41) erzogen werden: „Woher sollen bei einer solchen Überlastung [50 - 60 Wochenstunden Arbeit neben der Schule, Einfügung von JG] Zeit und Lust zu Schularbeiten kommen? Fehlt einem solchen Kinde nun etwa noch ausreichender Schlaf [ca. 44 % der Kinder schlafen mit dem Bruder in einem Bett, Einfügung durch JG], so kann es kaum in der Schule aktiv mitarbeiten; es ruht aus oder ist zerfahren und nervös.“ (S. 42)

Vorgestellt werden auch die „konzeptionellen Vorüberlegungen“ für die Gruppe Müller:

  1. Stete Rücksicht auf die natürliche Entwicklung jedes Kindes.
  2. Gestaltung der Gruppengemeinschaft in Anlehnung an das wirkliche Gruppenleben: Zusammenleben verschiedener Altersstufen und beider Geschlechter.
  3. Gemeinsame Erziehung unter Verzicht auf gemeinsamen Unterricht. Bei dem sich gegenseitig ergänzenden ineinandergreifen von Erziehung und Unterricht hat erstere als das Wertvollere zu gelten.
  4. Ziel des Gemeinschaftslebens soll sein: Erziehung zur Selbsttätigkeit, Selbständigkeit und gegenseitiger Hilfe.
  5. Weitergehende Zeitnahme der Kinder an der Verwaltung der Gruppe: Mitverantwortlichkeit.
  6. Gruppen- und Einzelunterricht unter Zuhilfenahme der älteren Kinder: Helfersystem.

Ausführlich stellt Müller auch die Organisation und die Verwaltung der Gruppe sowie das Helfersystem vor. Auch ohne den Klassenunterricht in der Jahrgangshorde ist es beeindruckend die Übersicht über behandelte Themen zu lesen. Vollkommen ungewöhnlich erscheint das Stichwort Körperpflege in dieser Übersicht für den heutigen Pädagogen, der Kinder nur unter dem Leistungsgesichtspunkt 'Deutsch-Mathe-Englisch' kennt und beurteilt.
„Häufige Aussprachen und Unterhaltungen in Klassenversammlungen oder mit kleineren Gruppen von Kindern dienten dazu, das Verständnis für vertiefte Leibespflege zu wecken.“ (S. 47). Damit meint Müller auch den unbefangenen Umgang mit dem völlig unbekleideten Körper.

Der Jahresbericht Müller über das eerste Versuchsjahr 1924/25 schließt mit den Erfahrungen mit den neuen pädagogischen Grundlagen. Erschreckend beurteilt Müller die mangelnde Einsicht mancher Eltern in den Geist der neuen Erziehung, die sich bei der Berufswahl, beim Ausstellen von 'falschen' Entschuldigungen und dem fehlenden Interesse am Schulleben ihrer Kinder. Von den Kindern beichtet er (von wenigen Ausnahmen abgesehen) durch die Bank von guten Erfolgen (S. 48). Eltern und Kinder (!) seien nach einem halben Jahr mit der Weiterführung der Gruppe auf dieser Grundlage einverstanden. Es hatten sich mehr als doppelt so viele Kinder angemeldet, wie aus der Gruppe durch die Altersmischung ausgeschieden sind.

Ein besonderes Kapitel widmet Müller der Jahresabschlussbeurteilung. Erstaunlicherweise gab es damals in dieser Lehrergruppe über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg eine große Gemeinsamkeit: Ziffenzensuren wurden unisono abgelehnt. Statt dessen gab es Berichtszeugnisse. Müller beleuchtet eindrücklich die Auswirkungen der Ziffernzensuren auf die Kinder - ein Aspekt, der in der heutigen Diskussion komplett ausgeblendet ist. (S. 49) Damals wie heute gab es gegen die Berichtszeugnisse erheblichen Widerstand: von den Eltern, weil durch die 'vollständigen, wahrheitsgetreuen Beurteilungen' (S. 49f) unangenehme Rückschlüsse auf häusliche Verhältnisse und Erziehungsversäumnisse möglich wurden, von den Betrieben, weil sie nicht in der Lage - und wohl auch nicht Willens sind - von den einfach zu verstehenden Ziffernnoten (eine 2 ist halt eine 2) auf die differenzierten Berichtszeugnisse umzudenken. Ganz deutlich wird hier der Unterschied vom blanken Interesse an Arbeitskräften, die von der Schule in brauchbare Kategorien vorsortiert sind und lebendigen Menschen, die ihr Leben erfüllt gestalten wollen. Leider kennt die Deutsche Verfassung keinen Anspruch auf Glück. So bleibt Müller nur der Kompromiß, der wie immer in solchen Fällen auf dem Rücken der Kinder und Pädagogen ausgetragen wird: Bericht + Zeugnisse.

Die konzeptionellen Vorüberlegungen schließt ein Kapitel über Feste und Feiern ab. Müller unterscheidet zwischen verordneten Schulfesten und Festen, die im Klassenleben verankert sind und von den Kindern selbständig vorbereitet werden. Auch dann, wenn bei diesen nicht immer der berühmte 'rote Faden' sichtbar sei, hätten letztere eine ganz andere Qualität für die Entwicklung der Kinder. Die Vorbereitung sei das wirklich wichtige. Wichtig ist auch, dass mit Müller Feste auch zu einem Fest für die Eltern werden sollen. (S. 55)

Auf den folgenden 50 Seiten dokumentiert Pehnke Schülerzeugnisse aus der Gruppe Müller. Ob es nun um die Edukation, die jahrgangsübergreifende Zusammensetzung der Klasse, die Selbstverwaltung oder um Probleme in der Gruppe geht - zu jedem und allem haben die Kinder kleine Berichte geschrieben, die Pehnke ausführlich vorstellt. Teilweise sind es Jahresberichte, Schüleraufsätze, Eintragungen ins Klassenbuch (das ja von Kindern geschrieben wurde - kein Verwaltungsdokument des Lehrers), Berichte über Feste oder traurige Anlässe, über Vorträge und Ausstellungen, oder über den Landschulheimaufenthalt. Es entsteht ein sehr lebendiges Bild der Schullebens und der inhaltlichen Arbeit der Gruppe Müller.

Der Bericht über das 2. Versuchsjahr beginnt wieder mit den Konzeptionellen Vorüberlegungen Müllers. Ein Schwerpunkt liegt diesmal auf der Einrichtung der Selbstverwaltung der Gruppe, auf Erziehung und Unterricht und dem Leben und der Arbeit in der Klassengemeinschaft. Müller legt genau Rechenschaft darüber ab, welcher Unterricht für die ganze Klasse angesetzt war (Turnen, Baden, Singen, Spielen - zusammen 5 h pro Woche), wie viel Übstunden es in Teilgruppen gab (sprachliche und rechnerische Übungen - zusammen 4 h für jedes Kind) und wie viel Zeit für Klassen- und Generalversammlungen notwendig waren (ca. 10 h pro Woche). Müller betont, dass es dabei nicht um einen festen Stundenplan gehe, sondern um Durchschnittswerte, die sich jederzeit für die einzelnen Kinder sehr verschieben können. Es sei auch ganz unterschiedlich gewesen, wie viel Zeit die Kleinen mit den Großen gearbeitet hätten, ob es schulfreie Tage gegeben habe oder Schulfestlichkeiten, Besuche oder Schulwanderungen diese Zeitaufteilung beeinflusst hätten. Auch seien die Kursstunden für die Kinder freiwillig gewesen, infolge dessen sei die Gesamtgruppe nur einen Teil der Schulzeit beisammen.

„In diesen Stunden widmeten sich die Großen in der Hauptsache den Kleinen: sahen ihre Hefte durch, lasen, schrieben oder rechneten mit ihnen oder sorgten anderweitig für deren Beschäftigung: Die oder jene Gruppe ging wohl auch mit ihren Kleinen spielen oder spazieren oder hielten kleine Besprechungen. Bei geeigneten Gegenständen fanden immer im Beisein der Kleinen und Kleinsten aufh Klassenversammlungen und unterichtliche Besprechungen statt ... Die Kleinen unter sich, ebenso die Helfer-, Tisch- und Arbeitsgruppen führten im Gesamtverband der Klasse ihr besonderes Eigenleben. Besonderer Wert wurde gelegt auf die menschliche Verbindung der Kinder untereinander und mit dem Lehrer: Gruppen- und Einzelaussprachen. Knaben und Mädchen führten das gesamte Klassenleben gemeinsam.“ (Müller, S. 113)

Es gab auch aus organisatorischen Gründen mit einer 3. Gemischten Klasse gemeinsame Badestunden. Diese Gemeinsamkeit wurde über die organisatorische Notwendigkeit hinaus ausgedehnt. Es gab gemeinsame Ausflüge, Klassenfeiern und gemeinsames Klassenleben bei Vorträgen, Erzählen, Singen und Spielen.

„Als ungeschriebenes Klassengesetz oder besser als Grundlinien einheitlicher Lebensgestaltung können folgende Gedanken gelten:
  1. Sei immer willig zur Arbeit für die Schule oder die Klasse!
  2. Sei immer Bereit zur Hilfe!
  3. Nimm immer Rücksicht auf Deine Mitmenschen!
  4. Sage immer die Wahrheit, aber sei auch gerecht und suche auszusöhnen!
  5. Lerne auch zur rechten Zeit und am rechten Ort zu schweigen!
  6. Bekämpfe und meide allen Klatsch, aber bringe alles zur Sprache, was den guten Geist der Schule oder der Klasse gefährden kann!
  7. Kümmere Dich auch außerhalb der Klasse um Ordnung, Reinlichkeit und Ruhe im Schulhaus!
  8. Benimm Dich in der Öffentlichkeit und daheim so, dass man die Humboltschule achten kann!
  9. Meide alle hässlichen und gemeinen Redensarten, Schmierereies und Witze. Suche Deine Gesellschaft nur bei anständigen und sauberen Menschen!
  10. Bemühe Dich um die Gesunderhaltung und Kräftigung Deines Körpers!
  11. Verzichte auf Alkohol und Nikotin!
  12. Suche allsen Schund (Buch, Schmuck, Kino, Bild, Theater) zu meiden!
  13. Verzichte während Deiner Schulzeit auf die Mitgliedschaft in Vereinen, verzichte insbesondere auch auf politische und religiöse Jugendgruppen!
  14. Bemühe Dich, immer anderen ein Vorbild zu sein!

Das alles durchzuführen ist natürlich den Kindern ebenso in nur beschränkten Maße möglich als den Erewachsenen“ (Müller, S. 113f)

Es folgt eine Auflistung der Themen, mit denen sich die Gruppe Müller beschäftigt hat. Er resümiert: „ Nehmen wir noch hinzu (zu den Klassenbarichten und Protokollen auf mehreren hundert Seiten), dass einzelne Gruppen sogar Niederschriften über Ihr Gruppenleben und ihre Sonderbesprechungen angefertigt haben, so ist fast alles Denken und Erleben der Kinder fixiert worden, zumal es auch nicht an zahlreichen gegenseitigen Beurteilungen und Bekenntnissen des persönlichen Innenlebens fehlt.“ (Müller, S. 120)

Auf über 100 Seiten wird wieder das Schuljahr aus Schülersicht dargestellt. Ausführlich (ca. 10 Seiten) sind auch dem Bauernkriegsfestspiel und der Fahrt ins tschechische Weipert gewidmet, den Höhepunkten des 2. Versuchsschuljahres.

Im dritten Versuchschuljahr war das letzte der Gruppe Müller, weil „Kollegium und Elternrat (immer als Ganzes gesehen) dem Versuch nicht gewachsen waren.“ (Müller, S. 234f) Kinder und Eltern standen einmütig zur Gruppe Müller und haben das auch durch ihre Unterschriften bestätigt. Wie immer wurde dieses Votum ebenso einmütig vom Lehrerkollegium und Elternrat übergangen. Im Brennpunkt der Differenzen stand die Koedukation. „Das Chemnitzer Schulamt hat im dritten Versuchsjahr Bestimmungen erlassen, die die gmeinsame Körpererziehung dermaßen einschränkte, dass fast nichts mehr übrig bleibt.“ (Müller, S. 234)

Zwei Müttern im Elternrat der Schule, die selbst kein Kind in der Gruppe hatten, veranlassten den Vorsitzenden zum Protest gegen das seit Beginn des Schulversuchs in der Gruppe durchgeführten Nacktbadens. Das Baden wurde ganz eingestellt. Jetzt protestierte die Schulleitung. Der Elternrat unterstützte den Protest seines Vorsitzenden nicht und er legte zusammen mit den beiden Müttern das Mandat nieder. Damit war der Fall in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die ausgeschiedenen Mitglieder des Lehrerrates wurden dazu gedrängt wieder einzutreten, aber der preis war die Verzicht auf die gemeinsame Nacktheit überhaupt. „Dadurch wurden körperliche, sittliche und geschlechtliche Dinge den Kindern der Gruppe wieder so in den Verdergrund gedrängt, saß die durch jahrelange Erziehung und Gewöhnung wiedererworbene Harmlosigkeit in diesen Fragen arg erschüttert und gefährdet wurde. ... So musste die Stimmung und Arbeit der ganzen Gruppe geschädigt werden.“ (Müller, S. 233) Sehr engagiert und überzeugend nimmt Müller in seinem Jahresbericht für die Koedukation und die Nacktheit Stellung - aber es nützt nichts. Da Müller sie so nicht weiterführen und kein anderer Lehrer die Gruppe übernehmen will. Endet das Experiment am Ende des Schuljahrs.

Natürlich finden sich diese Turbulenzen auch in den Berichten der Kinder wieder. Sie sind enttäuscht und traurig, dass ihre Gruppe 'zerstört' wurde und verarbeiten auf ihre Weise (als hilflose Opfer) auch den Anlaß der Zerstörung. Es ist beeindruckend, dass die Kinder den Anlaß klar erkennen und auch den Stellenwert des Nacktbadens einordnen können. Trotzdem wird deutlich, wie wichtig ihnen auch die Selbstverwaltung und das Klassenleben ist. Der Beschluß, die Gruppe Müller ist kein einsamer Entschluß Müllers, sondern ein Entschluß der Klasse, die mit Wehmut auf die gemeinsamen 3 Jahre zurüclblickt.

Das folgende Kapitel ist der Formenlehre und der Geometrie und weiteren Projektarbeiten gewidmet. Wie jedes Mal zunächst die konzeptionellen Vorüberlegungen Müllers. Wie heute noch in der Waldorschule geht der Geometrie die Formenlehre vorher. Doch bei Müller ist es umfangreicher, nicht nur im Epochenheft der 'Kleinen' sondern auch „mit dem Baukasten, mit Plastilin, Ton oder Sand, beim Stäbchenlegen, beim Spiel mit geometrisch regelmäßigen Holz- oder Metallplättchen. ... Natürlich handelt es sich auf den Unter- und Mittelstufe nicht darum, die einzelnen Gebilde formen- bzw. raumkundlich richtig zu benennen oder gar zu definieren, sondern darum, das Kind zur schnellen und sicheren Erfassung charakteristischer Merkmale und zur Zurückführung von Lebensformen auf einfache Grundformen zu befähigen.“ (Müller, S. 304) Montessori lässt grüßen: Sie ermöglicht ihren Kindern mit den Sinnesmaterialien ähnliches ermöglicht - z.B. mit den Buchstaben aus Sandpapier auf Holztäfelchen zum Buchstabenlernen. Statt Text-Beiträgen aus Schülersicht finden sich diesmal Abdrucke aus dem Schülerheften für Formenlehre und Geometrie seines Schülers Otto Janka. Es folgen 18 Seiten ausgewählte Projektarbeiten.

Die letzten 40 Seiten beschäftigen sich mit dem weiteren Schicksal der Versuchsschule bis zu ihrem Ende 1933. Müller übernimmt zwar wieder eine Klasse aber nun zu veränderten Bedingungen, allerdings mit folgendem Fazit: „Das Gesamtbild der Klasse war in Bezug auf Benehmen, Arbeitswille und Leistung ebenso unbefriedigend wie im Vorjahr. Rüpelhaftigkeit der Jungen, Klatschsucht der Mädchen und Unverträglichkeiten führten fast täglich zu Konflikten. Die Klasse war auch den Verpflichtungen, die ihr die Hausaufsicht brachte, nicht gewachsen. Beschwerden der aufsichtführenden Lehrkräfte waren nicht selten. Es fehlte fast allen Kindern an Selbstzucht und Gewissenhaftigkeit. Verschlimmert wurden diese Mängel durch feige Ausreden um sich der Verantwortung zu entziehen. Die Unehrlichkeit kam ferner in Diebstählen (aufgeklärte und unaufgeklärte) zum Ausdruck. Ein Junge wurde sogar gerichtlich belangt und wegen versuchter Erpressung (er hatte einem Fachlehrer, mit dem er zahlreiche Auseinandersetzungen gehabt hatte, anonym einen Drohbrief geschrieben und einen Geldbetrag von 5 Mark zu erlangen versucht) verurteilt.“ (Müller, S. 337f) Das Lehrerkollegium kommt zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage in der Versuchsschule.

Die Schulaufsicht - damals wie heute - wird zwar dem Erfolg der Versuchsschule Rechnung getragen, es wird auch behauptet, dass viele Impulse von den Regelschulen übernommen worden seien. Doch eine Fortsetzung dieser erfolgreichen Arbeit wird nicht unterstützt. Wenn es wirklich so erfolgreich gewesen wäre, so wird von der Behörde Argumentiert, dann hätten sich ja alle Lehrer diesem Versuch angeschlossen. (S. 343). Damit ist der Erfolg dieser Gruppe personalisiert, der weiteren Verbreitung jedoch wirksam ein Riegel vorgeschoben. Ohne diesen Pädagogen ist das nicht wiederholbar. Ein Vorgang, der sich leider auch im Klappentext wiederholt: „offenbar begnadeter Pädagoge“, der in „der einzigartigen pädagogischen Atmosphäre der Gruppe Müller“ stattfindet, findet sich auch bei A. S. Neill. Dessen Schule besteht auch 20 Jahre nach seinem Tod immer noch.

Die Versuchschule in Chemnitz allerdings wurde nicht durch den Weggang von Müller beendet, sondern durch die brutalen Maßnahmen des NS-Regims. Das Kollegium wurde zerschlagen, entlassen oder strafversetzt. Ein Versuchsschullehrer mutierte zum übereifrigen SA-Mann (S. 345). Eine besonders üble Rolle haben ausgerechnet die „christlichen Elternvereine“ gespielt, die die faschistischen Machthaber baten, die Versuchschulen in Dresden (Humboldtschule und Schule Bernauerstraße) aufzulösen. Sie wurden als 'marxistisch' gebrandmarkt. Sie wurden in Normalschulen überführt. Das war das Ende jeder Versuchsbestrebungen.

1964 haben ehemalige Schüler des Schulversuches ihre Gedanken zu diesem 'einzigartigen Schulversuch' niedergeschrieben - andere folgten. 1991 hat Walter Janka in seiner Autobiographie auch über seine Zeit in der Versuchsschule berichtet. Weitere Erinnerungsberichte aus den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts folgen - allerdings scheint hier der 'Verklärungsprozeß' bereits in vollem Gange.

Den Abschluß dieser außergewöhnlichen Dokumentation bildet ein Quellen und Literaturverzeichns.