Rezension von Jürgen Göndör

Blichmann, Annika (2011):
Ovide Decroly - Die Methode Decroly als Beitrag zur internationalen Reformpädagogik. Einführende Texte.

Französisch Deutsch, Italienisch Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Annika Blichmann.

Reihe: Pädagogische Reform in Quellen, Edition Pedaia, Verlag IKS Garamond, Jena

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Annika Blichmann verfolgt mit diesem Band zwei Anliegen. 1. möchte sie die psychologischanthropologischen Grundlagen, auf denen die Reformvorstellungen von des belgischen Arztes Ovice Decroly beruhen, die in mehreren Sprachen vorliegen, in eben diesen Sprachen und deutscher Übersetzung zugänglich machen und 2. die Autorenschaft Ovides Decrolys an diesen Beiträgen genauer untersuchen. Einleitend stellt sie Ovide Decroly selbst vor.

Übersicht:

Ovide Decroly war ein belgischer Reformpädagoge. Er hat zwar keine Darstellung seines Gesamtwerkes verfasst, dafür aber über 500 Beiträge in nationalen und internationalen Zeitschriften verfasst. "Die Methode Decroly" wurde von seiner langjährigen Mitarbeiterin Amélie Hamaïde verfasst, erschien bisher in acht Auflagen und wurde in mehr als ein Duzend Sprachen übersetzt. Decroly war Professor für spezielle Psychologie, Leiter verschiedener Lehrerausbildungskurse im Bereich der Sonderpädagogik, Leiter psychologischer und kinderpsychologischer Abteilungen, Schuldirektor und Mitbegründer der New Education Fellowship. Er nennt seine Methode 'biopsychisch' und zählt neben Montessori als ein Begründer einer medizinischen Pädagogik.

Er fragte sich: "Warum ist dieses Kind so unaufmerksam oder unkonzentriert? Warum kann es nicht lesen? Warum kann jenes die Orthographie oder das Rechnen nicht begreifen? Ist es schon in der Schule gewesen? Was hat es dort getan?" Für ihn war klar, dass "ein tiefgreifender Irrtum [...] dafür sorgt, dass man keine klare Vorstellung der einzusetzenden Mittel hat, um das Kind auf das Leben vorzubereiten." Er versuchte in einer ersten Schule, dem 'Institut d'enseignement spécial' (1901) aus ärztlicher Sicht auf experimentelle Art das Interesse der Kinder zu wecken, ihre Entwicklung zu fördern, ihr Verhalten zu ergründen. Seine systematischen Beobachtungen dokumentierte er schriftlich und auch als erster in Filmen, die heute im 'Centre d'Etude decrolyenne', dem Archiv der Schule Decrolys eingesehen werden können. Seine 'Ecole de l'Ermitage Ecole pour la vie par la vie', die er 1907 gründete, stellt einen zweiten Versuch dar, die experimentell gewonnenen Erkenntnisse nun in allgemeingültiger Art und Weise zu nutzen.

Decroly teilt die 'innersten Bedürfnisse', die 'besoins primordiaux' in vier Bereiche ein: Das Bedürfnis nach Nahrung, Atmung und Reinlichkeit; dem Bedürfnis nach Kampf gegen Witterunsunbilden; das Bedürfnis nach Verteidigung gegen Gefahren und Feinde und das Bedürfnis nach Tätigkeit, nach gemeinsamer Arbeit, nach Erholung und nach Emporkommen, nach Licht, nach Assoziation, nach Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfe. Diese vier Ur oder Grundbedürfnisse bilden den Rahmen seines Unterrichts, der ganzheitlich und ungefächert ist. Nicht der Lehrer lehrt das Kind wird selbst aktiv und bestimmt das Unterrichtsgeschehen nach seinem Interesse. Der Unterricht findet im Klassenzimmer, auf den Feld, im Wald auf Ausflügen und in Museen statt . Im offenen Erfahrungs und Begegnungsraum lernen die Kinder durch Entdecken. Ein einheitlicher Lehrplan ist nicht mehr möglich.

Decroly entwickelt einen methodischen Dreischnitt: 1. Beobachtung. Kinder lernen durch selbst tun: untersuchen, erforschen, beobachten. Der Lehrer muss also natürliche Gegebenheiten schaffen, die Kinder beobachten können. 2. Assoziieren. Die Assoziation zwischen dem gegenwärtigen Erleben und den Leben in der Vergangenheit, zwischennahem und weit entferntem Geschehen erschließt die Sinnzusammenhänge der Welt. Ausdruck. Der konkrete (Zeichnungen, Modellierungen, Konstruktionen,...) oder abstrakte Ausdruck (lesen, Anfertigen von Plakaten, Vorträge, Aufsätze, ...) ermöglicht den Kindern das was sie erlebt und erfahren haben in Zusammenhängen darzustellen. Er verwendet wie später C. Freinet. eine Druckerpresse.

Decroly entwickelt auch eine eigene Lesemethode: die sog. 'ideovisuelle Methode'. Er findet in zahlreichen Untersuchungen heraus, dass Kinder graphische Bilder besser behalten als Wortbilder, die wiederum besser als Silben und die besser als Buchstaben. Die Kinder beginnen mit kurzen Sätzen, die sie als Bilder aufnehmen. Mit steigender Reift begannen die Kinder von selbst mit der Zerlegung der Worte in Silben und der Analyse der einzelnen Buchstaben. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Amélie Hamaïde (1928: Die Methode Decroly), eine verkürzte graphische Darstellung bei Blichmann (2007: JenaPlan und die Methode Ovide Decrolys).

Ob Decroly Mitbegründer der New Education Fellowship (NEF) war oder nicht, lässt sich nach Blichmann nicht zweifelsfrei begründen. Je nach Lesart ist er Mitbegründer oder nur angesehenes Mitglied. Er selbst spricht distanziert auf der ersten internationalen Konferenz des NEF: "Genau deshalb wurde Ihr Weltbund gegründet" Blichmann ruft in Erinnerung: Er sagt nicht 'unser Weltbund', was gegen seinen Status als Mitbegründer spricht. Sie macht andererseits darauf aufmerksam, dass Decroly, oder seine Mitarbeiterin Amélie Hamaïde 1921 in Calais, 1923 in Montreux, 1925 in Hamburg und 1932 in Nizza Vorträge gehalten haben. Röhrs (1994: Die Schule in der modernen Gesellschaft) bescheinigt Decroly, 'in der Pädagogik eine strenge Systematik' eingeführt zu haben und den pädagogischen Raum naturwissenschaftlich gesehen: anordnend und beobachtend zum Experimentierfeld gemacht zu haben.

Quellentexte:

Dieser Überblick wird vertieft und dokumentiert durch sechs Quellentexte von Decroly und über seine Arbeit. Jeder Text hat eine eigene Einführung. Sie sind in drei Abschnitte gegliedert:

I. Basistext: (Quellentext 1)'Der pädagogische und methodische Gesichtspunkt' von Amélie Hamaïde (in: Die Methode Decroly, Weimar 1928).

II Spurensuche Teil I: (Quellentext 2) Rede auf dem ersten Kongress der NEF in Calais 1921. Hierbei handelt es sich aber um eine freie Wiedergabe der Redaktion der Zeitschrift: Das werdende Zeitalter, 1. Jahrgang, 1921, S. 12 15. Beide Beiträge liegen nur in deutscher Sprache vor.

Der dritte Quellentext: Ein auf den spontanen Tätigkeitstrieb des Kindes gegründeter Versuch innerhalb des Rahmens des Elementarplanes. (Auszüge) (in: Das Werdende Zeitalter, 1922). Wahrscheinlich stammt dieser Text aus der Hand einer Mitarbeiterin. Valérie Decordes. Dieser Beitrag liegt auf französich und in deutscher Sprache vor.

Erst der vierte Beitrag gibt die Originalrede von O. Decroly wieder, ebenfalls in französisch und deutsch. Sie wurde in The New Era {Angaben} abgedruckt.

Blichmann fügt eine tabellarische Übersicht über die ersten vier Artikel ein. Aufgabe dieser Übersicht ist der Verglich der Texte. Blichmann bescheinigt den AutorInnen der Quellentexte eins bis drei inhaltlich die Auffassungen Decrolys treffend wieder zugeben. Der Vergleich mit Text vier zeige allerdings deutlich, dass nur dieser den herausragenden Vortragsstil Decrolys zeigt.

Der Teil II der Spurensuche umfasst die Quellentexte 5 (italienisch und deutsch): Entwurf eines in einer Experimentalschule angewendeten Programms (in: Rivista di Psicologia, 1921) und Quellentext 6 (französisch und deutsch): Abhandlung über eine neue Schule und ihr Programm (eigenständige Publikation, 1921) Blichmann gelangt zu der Auffassung, dass nur der Text sechs Ovide Decroly und Gérard Boon, dem Direktor des Sonderschulunterrichts in Anderlecht (Belgien), selbst zugeschrieben werden kann.

Der Vergleich mit späteren Veröffentlichungen (1974 und 1999) macht auch deutlich, dass der ursprüngliche Text, den Blichmann wieder zugänglich macht, nur in deutlich gekürzter Form gedruckt wurde. Heraus fielen in beiden späteren Veröffentlichungen das Kapitel über die Schulorganisation, das von dem Prozentsatz der zurückgebliebenen Schüler und von der Bedeutung dieser Retardierung handelt. Decroly war allerdings ein strenger Verfechter einer möglichst homogen zu bildenden Schülerschaft in einer Klasse. Es würde Lehrern und Schülern die Schulzeit angenehmer machen, wenn Methoden zur Anwendung gelangen könnten, 'die besser für das Denkvermögen der Schüler geeignet sind.'