Maren Gronert - Alban Schraut (Hrsg.) [2016].
Sicht-Weisen der ReformpŠdagogik
Reihe: Erziehung Schule
Gesellschaft Bd. 76
WŸrzburg, Ergon-Verlag,
28,00 Û
ISBN: 978-3-95650-148-7
ISSN: 1432-2058
http://ergon-verlag.de/paedagogik-soziologie/erziehung-schule-gesellschaft/band-76.php
Inhaltsverz.: http://ergon-verlag.de/paedagogik-soziologie/erziehung-schule-gesellschaft/band-76.php
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Besprechung
In ihrem Vorwort weisen
Marion Gronert und Alban Schraut darauf hin, dass der Titel 'Sicht-Weisen'
bewusst gewŠhlt ist (S. 9). Das Buch versammelt siebzehn AufsŠtze aus
unterschiedlichster Sicht auf die ReformpŠdagogik: von Gerd-Bodo von Carlsburg,
dem PrŠsidenten des Weltbundes fŸr Erneuerung der Erziehung, deutsche Sektion
bis JŸrgen Oelkers, dem die ReformpŠdagogik schon lange ein Dorn im Auge ist.
Das Ergebnis ist ein Werk mit sehr unterschiedlichen 'Sichtweisen' der
ReformpŠdagogik.
Ein VerstŠndnis von
'Sicht-Weisen' ist jedoch nicht angesprochen, nŠmlich im Sinne von 'den Blick
lenken'. Wenn die 'ReformpŠdagogik' schon von Alban Schraut als 'Reizwort' (S.
13) beschrieben wird, dann ist die Frage, ist sie das auch heute noch? Und wenn
ja, wohin lenkt dieses Reizwort den Blick auf die heutige PŠdagogik? Geben die
siebzehn BeitrŠge auf diese Frage eine Antwort - und wenn ja welche?
Die vorliegende Rezension
versucht aus den BeitrŠgen die jeweilige spezielle Sicht-Weise deutlich zu
machen und die Frage zu beantworten, ob denn diese Sichtweise auch einen Blick
auf die heutige PŠdagogik lenkt.
Steht man vor der Aufgabe,
eine Rezension zu so einem Sammelband zu schreiben, kann man sich dafŸr
entscheiden, entweder summarisch Ÿber den gesamten Band zu schreiben oder jeder
'Sichtweise' ein bisschen Raum zu geben. Ich habe mich fŸr letzteres entschieden.
Alban Schraut:
Zum Einstieg: Sichtweisen zur Verortung und zum 'Begreifen' von
ReformpŠdagogik
"Die ReformpŠdagogik gibt es nicht. Diese Šu§ere Konturlosigkeit einer ReformpŠdagogik und ihre
gleichzeitige innere KomplexitŠt mšgen der Grund dafŸr sein, dass es heute noch
keine schlŸssige Theorie gibt - vermutlich niemals geben wird oder darf."
(S. 13) Entgegen dieser Einsicht versucht Alban Schraut trotzdem eine
'ungewšhnliche' Sicht-Weise einzunehmen: In 6 Diskursen mit jeweils einer Abbildung
stellt er den Zusammenhang der ReformpŠdagogik mit der 'NormalpŠdagogik' graphisch
dar. Dabei ergeben sich Schnittbereiche mit vergleichbaren Sachverhalten, die
dann unter theoretischen und praktischen Vergleichen (z. B. Theorie
'NormalpŠdagogik' und Theorie ReformpŠdagogik, oder Praxis-Praxis) diskutiert
werden kšnnen. So kšnnte man dann zu einer gemeinschaftlichen Sichtweise gelangen
und mšglicherweise reformpŠdagogisch oder normalpŠdagogisch diesen Sachverhalt
weiterdenken. Diese Sicht-Weise fŸhre zu bemerkenswerten Ergebnissen:
"...Keim/Schwerdts "Handbuch der ReformpŠdagogik in Deutschland"
(2013, 2 Bde.) setzt ReformpŠdagogik verschiedenen Diskursen aus, in dem
SchlŸsselbegriffe und Leitideen historiografisch analysiert, im
gesellschaftlichen Kontext verortet, in Praxisfeldern systematisch erschlossen
und als pŠdagogische Handlungssituationen konkretisiert werden und trŠgt dazu
bei, Sichtweisen verort- und damit begreifbar zu machen."
Einen 'Blick' auf das
gegenwŠrtige Schulsystem deutet Alban Schraut nur durch Verweise an. Er nennt
Hein Retter (2010): Klassische ReformpŠdagogik im aktuellen Diskurs, Jena; das Handbuch von Keim/Schwerdt;
Fitzner, Kalb und Riese (2012): ReformpŠdagogik in der Schulpraxis, Bad
Heilbrunn u.a.
Winfried Bšhm:
ReformpŠdagogik - ein deutsches Syndrom?
Er konzentriert sich auf
zwei Perspektiven: ReformpŠdagogik als zeitliche
Epoche und als eine bestimmte
Denkweise. Als zeitliche Epoche deshalb, weil der Vergleich der
Schulsituation von 1800 und 1900 auf Bildern den epochalen Wandel deutlich
werden lassen:
"Der Lehrer befasst sich mit individuellen SchŸlern [...] Der Eindruck [...] erinnert mehr an eine familiŠre als an eine institutionelle AtmosphŠre. [...] die durchschnittliche Schulfrequenz (wohlgemerkt: nicht Klassenfrequenz!) [...] lag deutlich unter 30 SchŸlern [...].
Vollkommen anders muten Bilder [...] aus der zweiten HŠlfte des 19. Jahrhunderts an. Die SchŸler sitzen in hšlzernen BŠnken, quasi in 'Reih und Glied', [...]. Die WohnstubenatmosphŠre hat sich in einen fabrikŠhnlichen Arbeitslehrsaal verwandelt. SchulgebŠude erinnern mehr an Kasernen und Drill als an jene 'casa giocosa' (jenes fršhliche Haus). [...] Disziplin, Ordnung, Normierung, Standarisierung und perfekte Planung scheinen auf der ganzen Linie gesiegt zu haben." (S. 28)
Winfried Bšhm weist in einer
Fu§note ausdrŸcklich auf Parallelen zur heutigen PŠdagogik hin (S. 30 Fn1).
Er sieht zwar die
VerŠnderung in Bezug auf ein "demokratisches, d.h. auf Begabung und
Leistung und nicht auf Herkunft, Stand und Vermšgen abzielendes
Schulwesen" (S. 29) aber auch den Einzug von Gleichfšrmigkeit und
Schablonenhaftigkeit und das immer stŠrker hervortretende Berechtigungswesen"
(Ebenda), in dem Lernen zum blanken "Wettstreit um Noten, Zeugnisse und
Leistungsnachweise denaturierte", wo Bildung zur Ware mutiert war (Ebenda).
Mit der 'bestimmten Denkform' meint Winfried Bšhm den
von Nohl schon 'apostrophierten Gegensatz von AufklŠrung und Romantik'.
"So lassen sich [...] alle Optionen, die der ReformpŠdagogik offenstanden
und heute offenstehen, in diesem Spannungsfeld verorten." (S. 31) Das
VerhŠltnis von urwŸchsischer Gemeinschaft und vertraglicher Gesellschaft, der
zentrale Begriff der ReformpŠdagogik 'Leben', den Mythos vom gšttlichen Kind
und die HochschŠtzung der Arbeit. Statt von einem (linearen) Fortschritt in der
PŠdagogik sollte man lieber von Wellen oder Pendelbewegungen sprechen. Die
bestimmte Denkform verstehe sich als 'alternative' zu der 'normalen' Denkform.
Mšglicherweise sei dieser Gegensatz zur ein Popanz, der aufgestellt werde
'um dann auf ihn eindreschen zu kšnnen.'
(S. 36)
Insofern kšnnte man vielleicht 'alternativ und
normal' nicht als 'besser und schlechter' verstehen, sondern nur als eben
andere 'Sicht-Weise', die auf Einseitigkeiten des jeweils anderen hinweist und
so diese Einseitigkeiten Ÿberwinden helfen kann.
Gerd-Bodo von Carlsburg
ReformpŠdagogik reflektiert
Sein Untertitel lautet: WEE:
WofŸr steht die Šlteste reformpŠdagogische Scientific Community - und wie sehr
ist sie von dem unseligen Zeitalter des Nationalsozialismus' betroffen gewesen?
In
vier Abschnitten entfaltet er die Geschichte des Weltbundes von 1921 bis ins
zweite Jahrtausend. GrŸndet wurde die New Wducation Fellowship von der
EnglŠnderin Beartice Ensor, von der Schweizerin Elisabeth Rotten und von dem Schweizer
Adolphe Ferrire.
Die internationalen
Konferenzen: Montreux 1923, Heidelberg 1925 mit der vielbeachteten Rede von
Martin Buber: 'Erziehung und Freiheit', Locarno 1927, Helsing¿r 1929 und Nizza 1932 waren internationale
Plattformen des wissenschaftlichen Gedankenaustausches. 1922 gab Elisabeth
Rotten die Zeitschrift 'The New Era' heraus. Prominenter Mitarbeiter und Berichterstatter
war A. S. Neill, GrŸnder der legendŠren Schule Summerhill. Gerd-Bodo von
Carlsburg erinnert weiter an Pierre Bovert, an Ovide Decroly, John Dewey, an
Paul Geheeb und Edith Geheeb-Cassier, an Maria Montessori, an Helen Parkhurst
und den von ihr entwickelten Dalton-Plan, an Peter Petersen uns die
Jena-Plan-Schulen und auch an Heinrich Pestalozzi. Einigendes Band sei die
Erziehung zu selbstbestimmten Lernen, der handlungsorientierte Unterricht, die
Ganzheitlichkeit von Kšrper, Seele und Geist, die IndividualitŠt, die
Anschaulichkeit, die NaturgemŠ§heit, die ExemplarizitŠt und LebensnŠhe gewesen.
Die Zeitschrift The New Era
habe viele AufsŠtze von Maria Montessori veršffentlicht. Sie habe
herausgearbeitet, dass die den Lebensalltag bestimmende Welt von den
Erwachsehen bestimmt wird und darin viel zu wenig Platz fŸr ein Kind und
WertschŠtzung seiner Welt finde.
Gerd-Bodo von Carlsburg
stellt heraus, dass der Weltbund schon damals eine FriedenspŠdagogik vertrat. Ziele
waren die Erziehung zur SolidaritŠt und zum DemokratieverstŠndnis in der
Gemeinschaft, um Erziehung zu HumanitŠt, um ein Schulleben mit selbstgelebtem
Erleben von Verantwortung fŸr sich und den Anderen. (S. 42f). So seien in der
ƒcole d'HumaniteŽ unter den ca. 150 SchŸlerInnen 25 verschiedene Nationen
vertreten gewesen - ein StŸck Globalisierung von Bildung, auch auf der
Grundlage der Ideen des Weltbundes.
In der
nationalsozialistischen Zeit seien alle europŠischen AktivitŠten der Fellowship
zum Erliegen gekommen. In Deutschland seien alle AktivitŠten untersagt worden.
Eine NeugrŸndung der deutschen Sektion ist auf initiative von Elisabeth Rotten
1951 erfolgt. 1974 wurde mit den EuropŠischen
PŠdagogischen Symposien Oberinntal (ESPO), eine internationale Plattform
des Gedankenaustausches unter Mitgestaltung des Weltbundes geschaffen worden.
An dem bedrŸckenden Beispiel
der baltischen/litauischen Geschichte in der nationalsozialistischen Zeit macht
von Carlsburg deutlich, wohin Erziehung fŸhrt, die sich nicht diesen Werten
verpflichtet fŸhrt:
"Enkulturation, die HinfŸhrung zu den kulturellen Werten der Gesellschaft, sie gilt als wesentlicher Anteil einer Erziehung zum Frieden [...] Diesem Prozess des Voranbringens auf wissenschaftlicher Ebene und der Umsetzung in der Praxis sieht sich der Weltbund stets verpflichtet. Hermann Ršhrs hatte einen Anfang mit der Friedensschule (in Heidelberg, EinfŸgung JG) initiiert. Sein Engagement soll in Gedenken an ihn im Weltbund fortgesetzt werden". (S. 47)
Insofern ist diese
Sicht-Weise eine wichtige und ernstzunehmende Ansage an jede heutige Erziehung,
ob in 'normal' oder 'alternativ' oder 'privat' Schulen. Der Abschnitt 9 - die
Grundpositionen der ReformpŠdagogik / des Weltbundes - unterstreichen dies
eindrŸcklich.
(Grundpositionen der
ReformpŠdagogik / des Weltbunds:
http://wef-wee.net/de/start-wee.php?action=bvc-rp-ref )
Ingrid Dietrich:
ReformpŠdagogik - eine kritische Bestandsaufnahme
Ingrid Dietrich ist die
streitbare Grande Dame der Freinet-PŠdagogik. Nach ein paar ScharmŸtzeln mit
JŸrgen Oelkers, Winfried Bšhm, Wolfgang Scheibe, Hermann Ršhrs und der
Schulverwaltung hŠlt sie fest: Selbst JŸrgen Oel-kers habe festgestellt, dass
die Entwicklung, die natŸrliche Erziehung und die PŠdagogik vom Kinde aus genuine Grundgedanken der ReformpŠdagogik
seien. Dann aber kommt sie zu ihrem Kernanliegen: Damals wie heute gebe es
Kinder und Jugendliche, an denen die normale und alternative und auch die
Reform-PŠdagogik vorbeigeht:
"In der Tat geben andere Autoren wie Otto RŸhle (1922) ein erschreckendes Bild von den Bedingungen des Geborenwerdens, Aufwachsens und Lernens in den Arbeitervierteln der Gro§stŠdte, wo UnterernŠhrung, drangvolle Enge in schlecht gelŸfteten Wohnungen und mehrfach belegten Betten, Verwahrlosung der Kinder durch die TŠtigkeit beider Eltern in der Fabrik, frŸhe ErwerbstŠtigkeit der Kinder und Mangelerkrankungen wie Tuberkulose und Rachitis das normale Schicksal waren." (S. 54)
Daran habe sich bis heute -
au§er der begrifflichen Form - nichts geŠndert: Kinder aus
Arbeitslosenfamilien, Kinderarmut, 'defiziente Sozialisationsformen in
Bildungsfernen schichten, Prekariat, Migrantenkinder. Diese Kinder bzw.
Jugendlichen wurden damals wie heute benachteiligt.
"Statt an vorwŠrtsweisenden Konzepten und einem tiefgreifenden Paradiga-Wechsel von Schule und Unterricht zu arbeiten, der schon lange gefordert wird, vollzog man mit dem unhistorischen RŸckgriff auf die ReformpŠdagogik unreflektiert eine Wendung nach rŸckwŠrts, damit es nur irgendwie vorwŠrts geht." (S. 59)
Zwar habe die Methodik und
die Arbeitweisen der ReformpŠdagogik in die Grundschule Einzug gehalten,
parallel dazu habe aber Leistungs- und Konkurrenzkampf um gute Noten und der
Kampf um einen Platz an weiterfŸhrenden Schulen stark zugenommen.
"Die Angst aufstiegsorientierter Eltern, dass ihre Kinder den Sprung zum Gymnasium nicht schaffen kšnnten, vereitelt in manchen Grundschulklassen jeden Ansatz zu kindzentrierten, entspannten Arbeiten." (S. 61)
Hier werde eben nicht 'vom
Kinde aus' gedacht. Hier gehe es um Selektion fŸr FŸhrungspersonal,
Computerbediener und Ausgesonderte. So gerate immer nur der Tauschwert eines
LernbedŸrfnisses in den Blick. CŽlestin Freinet habe junge ArbeiterInnen
erziehen wollen,
"die zu einer kritischen Analyse ihrer Lage imstande sind, die ihre Interessen artikulieren kšnnen und sich zu deren Durchsetzung solidarisch mit anderen zusammenschlie§en kšnnen." (S. 62)
ReformpŠdagogisches Werkzeug
mŸsse zu einer aufklŠrerischen Bildungsarbeit genutzt werden.
Ingrid Dietrich stellt
selbst eine Reihe von Fragen am Ende ihres Beitrags, die aus ihrer Sicht-Weise folgen.
Die umfassendsten sind wohl die, die an vorwŠrtsweisenden Konzepten und einem
tiefgreifenden Paradigmen-Wechsel von Schule und Unterricht zu arbeiten.
Otto Hertz
ReformpŠdagogik aus meiner Sicht
Otto Herz folgt im Alphabet
der AutorInnen auf Ingrid Dietrich - besser hŠtte es nicht sein kšnnen.
Er beginnt mit einer
Vier-Punkte-Aufstellung, was fŸr ihn ReformpŠdagogik nicht ist: Weder eine VerklŠrung noch eine Verteufelung
historischer Konzepte, sondern immer AufklŠrung: "AufklŠrung gibt es nicht
halb, sie gibt es immer nur ganz."
(S. 67) Sie ist nicht Verherrlichung von GrŸnderfiguren, sie ist nichts
statisches, kein festes Regelsystem und schon gar kein Freischein, bestimmte
hehre Ziele durchzusetzen.
Es folgen acht Aussagen, was
ReformpŠdagogik fŸr ihn ist.
1. Ein biographisch erfahrenes
Leben, sein Leben
2. Eine bleibende Aufgabe
3. Ein Weg in Gemeinsamkeit,
BemŸhen eines wechselseitigen Verstehens und einer interkulturellen und
multikulturellen VerstŠndigung.
4. Eine Einlšsungsanstrengung
im Geiste der Ethik, die den Allgemeinen Menschenrechten, der Konvention Ÿber
die Rechte der Kinder und der Deklaration Ÿber die Rechte Behinderter zugrunde
liegt
5. Inclusiv, einladend.
6. Radikal.
7. Lebendige Demokratie
8. Jede zukunftsfŠhige
PŠdagogik kann nur dann ReformpŠdagogik sein, wenn sie sich selbst stŠndig
reformiert. (S. 68f)
Otto Herz schlie§t:
"Sechs Phasen und ein Hoffnungsschimmer
Zuerst wirst Du nicht wahrgenommen.
Dann wirst Du geringschŠtzig betrachtet.
Dann stš§t Du auf Ablehnung.
Dann erfŠhrst du heftigen Widerstand.
Dann sollst Du zum Aufgeben verfŸhrt oder bestochen werden.
Schlie§lich wirst Du bedroht, bekŠmpft, vielleicht sogar vernichtet.
Wenn Du das alles dann dennoch Ÿberlebt hast, dann kann es sein.
dass Du in Umkehrung eines historischen Beispiels damit Ÿberrascht wirst:
dass auf das 'Kreuzige ihn' ein 'Hosianna' folgt." (S. 72)
Seine Sicht-Weise ist: Die
Konvention Ÿber die Rechte der Kinder, die Deklaration Ÿber die Rechte
Behinderter und eine gelebte Demokratie zur Grundlage von allen Schulen zu
machen. Dann wŠre ReformpŠdagogik radikal verwirklicht.
Helmwart Hierdeis
Landschulheime: Schrittweise ErnŸchterung
Eine wirklich ungewšhnliche
Sicht-Weise: ein Brief. Helmwart Hierdeis schreibt ihn an einen Vater, den er
im Zug kennengelernt hat. Dieser hat ihm erzŠhlt, dass er und seine Frau sich
entschlossen haben ihre Tochter fŸr drei Jahre in ein Landerziehungsheim zu
geben.
Helmwart Hierdeis erzŠhlt in
diesem Brief von seinen Erfahrungen mit Landerziehungsheimen, als
UniversitŠtslehrer, als Vater und als Leser der Nachricht, dass ausgerechnet in
der Odenwaldschule SchŸler Ÿber Jahre sexuell missbraucht wurden.
Als UniversitŠtslehrer
erschien ihm alles im Rahmen, auch wenn es hie und da Drogenprobleme oder
sexuellen Missbrauch gegeben hatte.
Als Vater wurde er mit einem
etwas anderen Alltag im Landschulheim konfrontiert und brach das Experiment
nach zwei Monaten ab.
Als EmpfŠnger der
schockierenden Nachrichten aus der Odenwaldschule fŸhlt er 'bodenlose
EnttŠuschung'.
Er macht daher den anderen
Vater darauf aufmerksam, dass seine Tochter wohl engen Kontakt zu Verwandten
und Freunden der Familie halten kšnnte und er solle sich im Internat
erkundigen, welche interne Kontrollen das Haus selbst getroffen habe.
Er schlie§t seinen Brief mit
der Bitte, ihn Ÿber den Fortgang zu informieren, damit seine Skepsis keine neue
Nahrung erhalte.
Folgerung aus dieser
Sicht-Weise: Sein Kind nie - aber auch wirklich nie - einfach nur in
irgendeiner Institution - und sei es der Schule, im Kindergarten, oder sonst wo
- abgeben, sondern sein Dortsein wach und interessiert begleiten.
Jan Dirk Imelman
Vom Kinde aus, von der Gruppe aus, vom Geiste aus
Jan Dirk Imelman schreibt
aus einem Nachbarland, aus den Niederlanden, in dem die Didaktik des Neuen
Lernens in der Sekundarstufe gesetzlich vorgeschrieben ist. 13 Prozent der
Grundschulen arbeiten nach einer reformpŠdagogischen Tradition, es gibt mehr
als 400 Daltonplanschulen, mehr als 200 Jenaplanschulen, fast 200 Montessorischulen,
72 Waldorfschulen und 10 Freinet-Schulen. In Deutschland dagegen gibt es 2,5
Prozent reformpŠdagogische Grundschulen. Davon 450 Montessorischulen, 243
Waldorfschulen, 38 Jenaplanschulen und 3 Freinet-Schulen. Deutschland hat
fŸnfmal so viel Einwohner wie die Niederlande.
Seine Sicht-Weise bezieht
sich auf Peter Petersen und die VerŠnderung des Programms der New Education
Fellowship von 1912 zu 1921.
Ihm fŠllt auf, dass das
Programm von 1921 deutlich mehr Gewicht auf "Geist, Zusammenarbeit, Welt
und StaatsbŸrgerschaft, Gruppenarbeit und TotalitŠtsprinzipien" (S. 84)
legt. Speziell die deutsche Bewegung sei aus seiner Sicht "in
problematischer Sichtweise dem Gemeinschaftsgedanken verpflichtet". (S.
84) Sowohl Berthold Otto, Paul Geheeb aber auch Peter Petersen stŸnden "in
ein und derselben deutsch-idealistischen Denktradition." (S. 85) Begriffe
wie: 'gesamt', 'heil', Gemeinschaft', 'všlkisches Leben' oder 'Volk und Boden'
kŠmen immer wieder vor und seien Ausdruck einer bestimmten 'holistischen' spezifisch
deutschen Denkform. Er bezieht sich dabei auf eine Veršffentlichung von ihm:
'De taal van Duitse opvoedingsfilosofie‘n tijdens het Interbellum. Holistisch
denken onder kritiek. (Die Sprache der deutschen Bildungsphilosophien wŠhrend
der Zwischenkriegszeit. Ganzheitliches Denken in der Kritik. Maschinelle
†bersetzung Google)
Zu Peter Petersens
Fachsprache stellt er fest, sie sei von Dichotimie gekennzeichnet: "die
eine HŠlfte ihrer Begriffe ist positiv, die andere HŠlfte negativ bewertet.
Wenn er aber gegensŠtzliche Begriffe, z. B. Gemeinschaft grundsŠtzlich die
Bewertung Gut und kritischem Denken die Bewertung Bšse zuweist, gerŠt er in
eine "Inkonsistenz in seinem metaphysischen Gedankensystem" (S. 86)
die philosophisch nicht zu lšsen sind. Der Gedankengang von Jan Dirk Imelman
ist hier sehr verkŸrzt dargestellt. In den Niederlanden fŸhre die Petersensche
Fachsprache zu einem Problem:
"Man kann sich vorstellen, dass Jena-Plan-Teams sich in den Niederlanden, wo der Staat SchulfŠcher nur andeutet und selbst das Niveau von Lernzielen nicht angibt, in einem Freiraum befinden, dem die Jena-Plan-Theorie nicht gewachsen ist. Man sollte ja nicht kritiklos alles was die Gemeinschaft fŸr wahr findet, in den Lehrplan inkorporieren. Der Jena-Plan ist meines Erachtens nur dann pŠdagogisch verantwortlich zu verwenden, wenn man die dahinter stehende Theorie im anthropologischen und erkenntnistheoretischen Sinn umŠndert. Zweifelsohne wŸrde das hei§en, dass man aus dieser Theorie unter anderem die Metaphysik der Gemeinschaft entfernen mŸsste. " (S. 88)
So werden Lehren, Lernen und
Lernstoff zu Gunsten des Gemeinschaftslebens vernachlŠssigt. Auch diese Aussage
fasst Jan Dirk Imelmans Gedanken gro§zŸgig zusammen.
Was nun aus dieser
Sichtweise folgt ist, dass man nicht einfach reformpŠdagogisches Gedankengut
als Steinbruch nutzen kann, um den eigenen Unterrichtsalltag ertrŠglicher zu
gestalten, ihn mit reformpŠdagogischen VersatzstŸcken aufzulockern, ohne sich
um das Umfeld aus dem sie stammen zu berŸcksichtigen.
Wolfgang Keim
Mein Weg zu einer gesellschaftlich vermittelten Sichtweise der ReformpŠdagogik
als pŠdagogische Epoche
Der Beitrag von Wolfgang Keim hat mich besonders
beeindruckt. Zum einen beschreibt er an Hand seiner Lebensgeschichte, wie er an
die ReformpŠdagogik geriet und wie sie sein Leben geprŠgt hat. Damit eršffnet
er auch einen Blick auf ReformpŠdagogik nach 1945: Die GrŸndungsdiskussion um
die Konzeption von Gesamtschulen.
Er wurde nach Paderborn berufen - damals eine
reformpŠdagogische WŸste, es gab dort keine Gesamtschulen und nur eine
Waldorfschule - und so erfand er das 'Reisesemester'. Es begann mit
Kompaktphase zu der er aus einer 'reformpŠdagogischen Oase' (z.B. Berlin,
Hamburg oder Kšln) Personen einlud, die eng mit der ReformpŠdagogik verbunden
waren, und die Ÿber ihre reformpŠdagogische Arbeit berichteten und fŸr Fragen
der Studenten zur VerfŸgung standen. SpŠter im Semester folgte dann eine Reisewoche
in diese 'Oase' mit Hospitationen, Besuchen, GesprŠchen vor Ort aufgesucht
wurde. Und schlie§lich ein Abschluss des Reisesemesters mit einem
Auswertungstag in einer geeigneten Umgebung. Damit war ein wichtiges Anliegen
der ReformpŠdagogik erfŸllt: Der Mensch lernt nicht durch Belehrung sondern aus
Erfahrung. (Siehe die 30 Invarianten von C. Freinet auf der Webseite von
freinet.paed.com:
http://freinet.paed.com/freinet/frlit.php?action=frlit_invarde)
Wolfgang Keim spricht auch problematische Seiten an:
Peter Petersen und dessen anti-liberale und anti-demokratische Haltung vor 1933
seinem pro-nazistischen Engagement nach 1933 nicht im Wege stand. Er moniert:
Selbst heute noch erscheine die Schrift Petersens zum Jenaer-Plan ohne eine
kritische Einleitung, die seit Jahrzehnten vorliege (Brenner, Kemper [1991]:
Einleitung zur Neuherausgabe des Kleinen Jenaer Plan, Weinheim und Basel) oder
das BŸndnis von Maria Montessori mit dem Faschismus und Rudolf Steiners
všlkisch-rassistische und antisemitische Tendenzen.
Zum anderen beschreibt er bei seiner persšnlichen
Bewertung der ReformpŠdagogik, dass JŸrgen Oelkers zu Recht darauf hingewiesen
habe, dass ein Teil der reformpŠdagogischen Schulen nur von einem kleinen Teil
von Kindern besucht werden konnte. Hohe Schulgelder, die kaum durch Stipendien ausgeglichen werden konnten,
die guten Ideen der ReformpŠdagogen (Lietz, Wyneken, Geheeb und andere) eben
nicht fŸr alle Kinder zur VerfŸgung standen. Somit seien die Kinder z.B. der
Arbeiterschicht von vornherein ausgeschlossen gewesen.
Das Team-Kleingruppenmodell (TKM), das vor allem an
der Gesamtschule Kšln-Holweide und an der Gesamtschule Gšttingen-Geismar
durchgŠngig eingesetzt worden ist, sei ein geglŸcktes Beispiel von
ReformpŠdagogik und demokratischer Schulreform. Das TKM ermšglicht eine
reformpŠdagogische Organisation einer staatlichen Schule, die eben nicht
SchŸlerInnen aus bestimmten Schichten oder SchŸlerInnen mit
Migrationshintergrund ausschlie§t. Wolfgang Keim hŠlt "demokratische und
gezielt auf Inklusion setzende staatliche Gesamtschulen mit reformpŠdagogisch
akzentuierten Konzepten fŸr die bessere Alternative, solange sie nicht mit
Gymnasien um leistungsstarke und psychisch stabile SchŸlerinnen und SchŸler
konkurrieren mŸssen, und das bedeutet, solange sie mit der gesamten Breite
eines SchŸlerjahrgangs rechnen kšnnen." (S. 102)
Die Sicht-Weise von Wolfgang Keim gibt (mir) einen
wichtigen Fingerzeig: ReformpŠdagogik ist keine, wenn sie nicht auf alle Kinder
zielt, wenn sie bestimmte Gruppen von Kindern ausschlie§t, auf welche Weise
auch immer. In sofern ist es schade, dass Wolfgang Keim sich nicht mit CelŽstin
Freinet aus Frankreich und seinem pŠdagogischen Ansatz auseinander gesetzt hat
- zumindest erwŠhnt er diesen in seinem Beitrag nicht. Es ist kein Weg, den
eigenen Unterricht mit reformpŠdagogischen Methoden und Ideen aufzupeppen und
weiterhin in der hierarchischen Schule zu verbleiben. ReformpŠdagogik hat erst
dann einen Sinn, wenn sie die eigene Schule auch grundlegend verŠndert. Wenn
die reformpŠdagogischen Elemente in der Organisation der Schule
institutionalisiert sind, wenn sie im Schulprogramm einen 'Sitz im Leben'
haben.
Max Liedtke
ReformpŠdagogik - Versuch, auf biographischen Hintergrund eine Summe zu
bilden
Max Liedtke wurde 1931
geboren. Ihm begegnete die ReformpŠdagogik in den Fibeln seiner Šlteren
Geschwister. Er habe mit 'gro§er Lust' in den 'buntbebilderten und
kindertŸmlich gestalteten Fibeln' geblŠttert (S. 109). Stichwort:
Kunsterziehungsbewegung. Die Begegnung mit dem Nationalsozialismus in den
Fibeln war ihm damals nicht so deutlich. Scheinbar wurden erst 1937 einige
Seiten mit deutlich nationalsozialistischem Inhalt ergŠnzt, die - vermutlich
1945 - wieder herausgetrennt wurden. Die Machthaber hŠtten sich wohl mit 'Notlšsungen'
begnŸgt, statt eine Neukonzeption und einen Neudruck in Angriff zu nehmen. Der
traditionelle 'Fibel-Corpus' aus der Weimarer Zeit wurde nur 'kleinschrittig'
angepasst (S. 112).
Sein Onkels Theo Ziebarth war
in der katholischen Jugendbewegung aktiv, die von den Nazis verboten wurde und
der Onkel wurde von den Nazis verfolgt. Aber auch hier haperte es bei dem
Durchgriff von oben: Die katholische Jugendbewegung wurde zwar verboten, durfte
aber dann als 'Me§dienergruppen' - natŸrlich nur fŸr kirchendienstliche,
liturgische Zwecke - wieder aktiv werden. Und so wurde unter diesem Deckmantel
die katholische Jugendarbeit fortgesetzt. NatŸrlich nicht unbemerkt. Sein Onkel
habe seit 1934 'unter stŠndiger Kontrolle der Gestapo gestanden, Verwarnungen,
Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen' habe es fortgesetzt gegeben. 1937 eine
erste Verhaftung, weil er mit einer Schar Jugendlicher gewandert war. 150,- RM,
hilfsweise 15 Tage GefŠngnis, lt. Urteil des OLG DŸsseldorf. Schlie§lich wurde
er wegen unangemessener Bemerkungen Ÿber Hitlers 'Mein Kampf' in Schutzhaft
genommen und fristlos von seinem Arbeitgeber Rheinmetall-Borsig entlassen.
Diese VorgŠnge hŠtten ihm eine 'naziresistente/widerstŠndische Einstellung'
vermittelt. (S. 118)
Seine dritte Begegnung mit der ReformpŠdagogik - genauer mit
der ErlebnispŠdagogik - fand an der UniversitŠt in Hamburg statt. Seine Lehrer
- Carl Schniezel und Caesar Hagener - zelebrierten "eine gro§artige Form
der ErlebnispŠdagogik, eine gro§artige Form des Unterrichtens. [...] Eine EinfŸhrung,
die sich auf die Interessenwelt der SchŸler/Hšrer einstellte." (S. 118)
Max Lietke war so
begeistert, dass er selbst 'Schulfunkhšrspiele' schrieb.
Die 'ganze' ReformpŠdagogik
lernte er dann als wissenschaftlicher Assistent von Georg Gei§ler, einem
SchŸler von Herman Nohl, kennen. Besonders habe ihn beeindruckt, dass Hermann
Nohl den Volkshochschulgedanken aufgegriffen habe, "weil hier ohne
aufwŠndige theoretische BegrŸndung schlicht durch den Aufbau einer Institution,
deren Lehrangebot nicht eingeschrŠnkt war, vielfŠltige Bildungseffekte erwartet
werden konnten." (S. 120f)
Im RŸckblick stellt er fest:
"Die ReformpŠdagogik erschien und erscheint mir mehr als eine Ansammlung pŠdagogischer AktivitŠten sehr unterschiedlichen Ranges. Kerschensteiners Idee der Arbeitsschule und seine Erweiterung des Bildungsbegriffes sind in meinen Augen GlanzstŸcke der Theorie und Praxis der ReformpŠdagogik. Aber viele reformpŠdagogische AnsŠtze und AktivitŠten haben diesen Rang nicht." (S. 125)
Er hŠlt die ReformpŠdagogik
im Vergleich zu anderen Reformepochen zwar fŸr ŸberschŠtzt, sie habe aber
durchaus ihre positiven Funktionen, z.B. die grš§ere Mitbestimmung und
Selbstgestaltungsmšglichkeiten der Jugendlichen.
Die Sicht-Weise von Max
Lietke ist sehr subjektiv angelegt. Er betont, seine Aussagen seien 'keine
schmetternde Abwertung der ReformpŠdagogik.' Es sei nur sein Versuch auf diesem
subjektiven Hintergrund - eben biographisch - zu einer - seiner - EinschŠtzung
zu kommen. Er hat die ReformpŠdagogik als Kind erlebt, in seiner Familie und
hat beschrieben, wie sich aus diesem Erleben von 1931 - 1945 aus rudimentŠren
Resten des reformpŠdagogischen Denken und Wollens trotz der autoritŠren
NS-Erziehungs-ideologie bei ihm eine naziresistente/widerstŠndische Einstellung
entwickelte.
Seine Sicht-Weise ist eine
nachdenklich stimmende Mahnung, den Einfluss der Schule nicht zu ŸberschŠtzen:
Erziehung findet eben auch im Elternhaus und in der Familie statt!
Fritz MŠrz
Die reformpŠdagogische Bewegung
Der Beitrag von Fritz MŠrz stammt aus dem Jahr
1998. Seine Sicht-Weise auf die
ReformpŠdagogik habe sich seither nicht verŠndert.
"Diesen Kampf gegen die hergebrachte Erziehung und ihren autoritŠren Charakter, gegen die alte Lehrer- und Buchschule mit ihrem Fabrikbetrieb, gegen ihren didaktischen Materialismus und die †berbetonung des Intellekts im Unterricht, gegen den Methodenmonismus und Formalismus der Herbartianer, gegen das oberflŠchliche KulturverstŠndnis, den Historismus sowie das Fachidiotentum - diesen Kampf fŸr eine Beseitigung der Kluft zwischen Leben und Schule [...] . Diese Angriffe auf das Hergebrachte und den pŠdagogischn Trott verstŠrken sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert." (S. 129)
Mit diesen Zeilen beginnt der erste Abschnitt von
Fritz MŠrz. Es scheint unklar - bis auf die ErwŠhnung Herbarts - ob sich Fritz
MŠrz gegen die Schule zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts oder gegen die
Schule zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wendet. NatŸrlich ist in
der Schule des 21sten Jahrhunderts manches anders.
Wirklich?
Ist nicht heute ReformpŠdagogik heute so wichtig wie
sie es damals war? Nur scheint heute der Schwung von damals zu fehlen. In wie
viel Schulen wird noch 'Kreide-Pysik' betrieben? In wie viel Schulen gibt es
nur 'Lehrer-Demonstrations-Versuche'? In wie viel Schulen sind die
'SchŸlerversuche' genauestens von den Lehrern ausgearbeitet, so dass den
SchŸlerInnen keinerlei Spielraum fŸr eigene Gedanken zum Versuch mšglich sind?
Oder in den Fremdsprachen: In wie viel Schulen bestreitet die LehrerIn fast den
ganzen Unterricht mit Belehrungen, ErklŠrungen und SchŸlerinnen kommen zur mit
Antworten auf Fragen zu Wort? Sie dŸrfen nur Texte Ÿbersetzen oder vorlesen.
Begann nicht der schulische Computerunterricht mit Informationen zum Ein- und
Ausschalten des Rechners - auf einer Ebene, die die fŸr SchŸlerInnen, die
selbst eine 'Kiste' zu Hause stehen hatten, sterbenslangweilig war? Die Liste
kann verlŠngert werden.
ZurŸck zu Fritz MŠrz.
FŸr ihn beginnt die ReformpŠdagogik mit den Deutschen Schriften von Paul De Lagarde
(1827_1891) und mit Julius Langbehns (1851-1907) Buch 'Rembrandt als Erzieher. (Ihm bescheinigt er einen Šhnlichen
zweifelhaften Erfolg wie Bernhard Bueb mit seinem Buch 'Das Lob der Disziplin'
(2008).) "Darin besingt er in gro§deutscher Arroganz den hollŠndischen
Maler als Muster-Deutschen und setzt sich - nicht frei von rassistischen
Vorurteilen und anitsemitischen Neigungen - fŸr eine Renaissance des
Deutschtums in Kunst, Wissenschaft und Bildung in Gesellschaft und Politik ein.
€hnlich wie Nietzsche plŠdiert er fŸr die besondere Pflege einer elitŠren
Minderheit." (S. 130) Dann kommt er auf das Buch von Ellen Key
(1849-1926): Das Jahrhundert des Kindes (1900, deutsch 1902) zu sprechen,
welches ein wichtiges Motiv zur ReformpŠdagogik beisteuerte. Namentlich erwŠhnt
er Maria Montessori, Berthold Otto und Ludwig Gurlit, weist aber auch 'auf
viele andere Erzieher' hin, die 'dieses Motiv krŠftigen und differenzieren'.
(S. 130)
Fritz MŠrz weist darauf hin, dass die Begriffe und
Prinzipien: "Eigenart und Eigenwert des Kindes sowie die Verpflichtung des
Erziehers, sich daran zu orientieren, RŸcksicht aus Selbstentfaltung und
Wachsenlassen, NaturgemŠ§heit, SpontanitŠt und AktivitŠt, Pflege des Gemeinsinns und des Gemeinschaftslebens,
Fšrderung des kindlichen Spiels und Betonung des Musischen" (S.131) zwar
keine neuen GrundsŠtze und Kategorien sind, wohl aber ihre BerŸcksichtigung in
der Schule.
Allen ReformpŠdagogInnen - so unterschiedlich ihre
Konzepte auch sind - eint der pŠdagogische Enthusiasmus: "der Glaube an
das Gute im Menschenkind, an die Mšglichkeit einer Freilegung der kreativen
KrŠfte in ihm sowie des Aufbaus einer neuen besseren Gesellschaft aus dem
Schutt einer zerbršckelnden Kultur und aus den Resten einer morbiden
Gesellschaft 'auf erzieherischen Wege'." (S. 131)
Er erinnert u.a. an Paul Oesterich (1878-1959), den Bund Entschiedener Schulreformer und
die Elastische Einheitsschule, weist aber auch darauf hin, dass diese
Vorstellungen in der Weimarer Republik nicht verwirklicht wurden.
Es folgen Namen wie Georg Kerschensteiner
(1854-1932), Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966), Hermann Lietz (1868-1919),
Peter Petersen (1884-1952), Anton S. Makarenko (1888-1939), Edward J. Flangan
(1886-1948) , Karl Wilker (1885-1980), Walter Hermann (1896-1972) und Curt
Bondy (1894-1972). Er erinnert auch an die Aufwertung der PŠdagogik im
universitŠren Bereich. Hier befreite sich die PŠdagogik zu einem eigenstŠndigen
akademischen Fach. Und schlie§lich an die Aufwertung der Volksschullehrer durch
eine akademische Ausbildung.
Er nennt zahlreiche Titel reformpŠdagogischer Werke
von Georg Kerschensteiner: Die staatsbŸrgerliche Erziehung der Deutschen Jugend
(1901), Ÿber Hermann Lietz: Die Deutsche Nationalschule - BeitrŠge zur
Schulreform aus den Deutschen Landerziehungsheimen (1911) , zu Hermann Nohl Die
pŠdagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1935).
Im Abschnitt 6. Die Leistung der ReformpŠdagogik
fasst er zusammen:
Die Hinwendung zum heranwachsenden Menschen und die Orientierung an seinen BedŸrfnissen, Neigungen und Interessen [...] ist in seinem Wert und seiner Bedeutung unumstritten, muss allerdings von Erziehern und Erzieungswissenschaftlern gegenŸber ausschlie§lich an škonomischen Sachverhalten orientierten Politikern und Vertretern der Wirtschaft immer wieder erneut angemahnt und erstritten werden - oft genug leider ohne Resonanz und Erfolg." (S.134)
Mit dieser aus heutiger Sicht fast 'hellsichtigen
Sicht-Weise' aus dem Jahr 1998 fast am Ende seines Beitrags ist auch schon der
Ertrag des Beitrags von Fritz MŠrz beschrieben.
Oskar Negt
Die Idee der Alternativschule als Beispiel und als utopischer Versuch gesellschaftspolitischer Reformbewegung
Auch Oskar Negt schreibt keinen neuen Beitrag,
sondern bat darum, Abschnitte aus seinem letzten Buch: Philosophie des
aufrechten Ganges (2014), Gšttingen, Steidl-Verlag, zu entnehmen. Oskar Negt
ist GrŸndungsvater der Glocksee Schule Hannover. Er spricht an keiner Stelle
von ReformpŠdagogik, sondern von Alternativschulen. Sein Buch trŠgt den
Untertitel: 'Streitschrift fŸr eine neue Schule'. (S. 138) Sein Beitrag beginnt
mit den Worten: Empšrt Euch! (S. 138)
Er findet, Schule sei es wert, sich fŸr sie zu empšren.
"Schulen sind die entscheidenden
Vermittlungsinstitutionen der Generationen [...] Aber sie sind [...] in einem
erbarmungswŸrdigen Zustand." Negt meint damit nicht die bauliche sondern
die pŠdagogische Substanz. Was ohne Probleme zu sein scheint, ist die
Vermittlung von Sachwissen. Schule habe aber einen Bildungsauftrag und Bildung
beinhalte vor allem die Vermittlung von Orientierung in unserer heutigen Welt.
Hier habe Schule jedoch gro§e Probleme.
"Was unterscheidet einen lernenden Menschen von einem sich bildenden? Zuerst muss man sagen, dass ein gebildeter Mensch Ÿber VorrŠte verfŸgt. Er praktizierte eine Art Lagerhaltung, auf die er jederzeit, wenn es nštig ist, zurŸckgreifen kann. Der ungebildete Mensch denkt abstrakt, nicht der gebildete. [...] Bildung (entstehe, EinfŸgung JG) aus VerknŸpfungen, aus Netzen [...], aus der Herstellung von ZusammenhŠngen." (S. 142f) Dies leiste exemplarisches Lernen. "Damit aber ein durch soziales, emotionales und kognitives Lernen bestimmter Erfahrungsraum entstehen kann, ist es erforderlich, dass die betriebswirtschaftliche Enge der Kommunikation und die Angst vor Versagen aus der Schule verdammt [verbannt? RM = Raimund Morper] werden. [...] Denn wie sollen Kinder demokratische Grundtugenden lernen, wie das Teilen, das Entwickeln von Kompromissen oder sas Anerkennen anderer Meinungen, wenn ihnen nicht ein gro§es Ma§ an Selbstregulierung zugetraut und zugestanden wird."(S. 145)
Ein zweiter Argumentationsstrang fŸhrt zu der
Aussage, eine Schule mŸsse eine šffentliche Einrichtung bleiben. Schule mŸsse
"einen zentralen Beitrag leisten zum Erlernen
des aufrechten Ganges der nicht frŸh genug erprobt erden kann." (S.
150)
Damit sind aber auch schon die aus dem Beitrag von
Oskar Negt folgenden Konsequenzen fŸr Schule aus der 'ReformpŠdagogik' oder wie
Oskar Negt sagt von 'Alternativschulen' fŸr Schule von heute deutlich: Sie muss
ihrem Bildungsauftrag gerecht werden. Sie muss Orientierung und nicht nur
Sachwissen vermitteln. Und Schule muss šffentliche Schule sein und bleiben.
JŸrgen Oelkers
Braucht man zur Schulreform ReformpŠdagogik?
Der Beitrag von JŸrgen Oelkers braucht einen
Vorspann. Er verwendet zwar das Wort ReformpŠdagogik in seinen BŸchern und auch
in diesem Artikel, aber bei ihm ist ReformpŠdagogik auf die Landerziehungsheime
und Landschulheime beschrŠnkt. Er setzt sich mit der 'deutschen
ReformpŠdagogik', die ihr 'Hermann Nohl vor 80 Jahren gegeben hat' auseinander
und stellt schon im ersten Absatz die Fronten klar: "Durch die
MissbrauchsfŠlle in den Landerziehungsheimen, insbesondere in der
Odenwaldschule" sei die ReformpŠdagogik nachhaltig diskreditiert worden.
[...] Die ReformpŠdagogik die das Kind in den Mittelpunkt stellen wollte, war
fŸr die Opfer kein Schutz." (S. 151) Es ist vollkommen unstrittig, dass
'die ReformpŠdagogik' bedeutend mehr ist als 'die Landerziehungsheime'. Diese Reduktion
der ReformpŠdagogik durch JŸrgen Oelkers ist schlicht desinformierend.
Das Bild, das er von der ReformpŠdagogik zeichnet
ist mehr als schief. So richtig es ist, die klingenden Namen zu
entmystifizieren und zurecht zurŸcken, die HintergrŸnde der hochangesehenen
Schulen zu erhellen, so verbreitet er bewusst eine falsche Sichtweise, wenn er
behauptet, die ganze ReformpŠdagogik lasse sich Ÿber diesen einen Kamm scheren.
In seinem Beitrag dehnt er sein Bild der 'deutschen'
ReformpŠdagogik - meint: der deutschen Landerziehungsheime - auf die
'schweizerische' ReformpŠdagogik - meint: die 'schweizerischen'
Landerziehungsheime' - aus.
JŸrgen Oelkers zeigt den Zusammenhang des
schweizerischen Landerziehungsheims 'Glarisegg am Schweizer Bodensee' mit den deutschen
Landerziehungsheimen von Hermann Lietz auf. Hier wie dort sei ein ordentlicher
Schulbetrieb wegen des hŠufigen Lehrerwechsels nicht mšglich gewesen. Die
Lehrersituation in Glarisegg war durchgŠngig 'prekŠr' (S. 152), das Schulgeld
von 3400,- Schweizer Franken jŠhrlich - Ÿber 280,- SF im Monat - habe eine
elitŠre SchŸlerschaft gesichert. Das sei wie bei Hermann Lietz durchaus
beabsichtigt gewesen. Dann hei§t es:
"'Musterschulen' waren die Landerziehungsheime also nur als Topoi reformpŠdagogischer Propaganda. [...] In Summa lŠsst sich sagen: Die Schulen waren nie, fŸr was sie in der PŠdagogik und in der …ffentlichkeit gehalten wurden. [...] Auch unabhŠngig von der Geschichte der Landerziehungsheime: Die Suche nach Modellen einer gelingenden Praxis au§erhalb des staatlichen Bildungssystems hat nicht zu den Ergebnissen gefŸhrt, die erwartet wurden. Die strikte Unterscheidung von staatlichen Schulen die als nicht reformierbar gelten und privaten, die das Vorbild fŸr die Schulreformen abgeben sollen, ist damit gescheitert." (S. 152f)
"Mit der Fixierung auf die wenigen Schulen der
ReformpŠdagogik" (S. 153) - es ist seine Fixierung - sei jedoch verloren
gegangen, was er als 'Basisprozess der Schulreform im 19. Jahrhundert' ansieht:
Die Verstaatlichung des Bildungswesens. Dass dabei Schule eben vor allem nach
Verwaltungsstrukturen geplant worden ist und nicht an den Notwendigkeiten der
Kinder orientiert wurde, Ÿbergeht JŸrgen Oelkers. Er erinnert an den Juristen
und Bildungspolitiker Hellmut Becker, fŸr den die staatliche Schule gleichbedeutend
mit der verwalteten Schule war und schreibt: "'Wirkliche' Schulreform, die
nicht von der Verwaltung, sondern von den SchŸlern ausgeht, kann nur von au§en
kommen, also von den privaten Schulen reformpŠdagogischer PrŠgung." (S.
153)
Diese fragwŸrdige Alternative ist ein VersatzstŸck,
das JŸrgen Oelkers immer wieder in seiner Argumentation verwendet: 'Verwaltung'
versus 'von den SchŸlern aus'. Er verdreht damit, dass Schule hierarchisch
geplant ist und immer wieder von an Verwaltungsstrukturen geschulten Menschen
gedacht und organisiert wird und daher keinen Draht fŸr die BedŸrfnisse von
Kindern und ihrem Lernen hat. Das schlŠgt sich schon in der Architektur von
Schulen und in der Schulraumplanung und in der Planung von StundenplŠnen im
FŠcherraster nieder. Damit lŠsst sich einfach die Verteilung von Lehrern mit
bestimmten FŠchern auf Schulklassen regeln, geht aber vollkommen an den
BedŸrfnissen von durchaus lernwilligen Kindern vorbei. Er verstellt damit die
Idee, dass Schulreform eben nicht einseitig von der Verwaltung oder vom Kinde aus geplant werden muss,
sondern durchaus die Mšglichkeit besteht, beide
Erfordernisse zusammen zu denken und Schulreform auf diese Weise zu
buchstabieren.
Statt dessen verliert sich JŸrgen Oelkers in die
Herleitung der Wendung: 'Vom Kinde aus' und verweist auf Schulprojekte aus der
ersten HŠlfte des 19. Jahrhunderts in Amerika. Auch Montessori habe ihr Motto:
'Hilf mir es selbst zu tun' nicht selbst erfunden, es stamme auch aus dieser
Zeit.
Im dritten Abschnitt: 'Schulreform und
ReformpŠdagogik' macht er einer aus seiner Sicht parteilichen
Geschichtsschreibung zum Vorwurf, dass sie "kleine, alternative
Privatschulen zum Modell erhoben (hat, EinfŸgung JG), aber versŠumt (habe,
EinfŸgung JG), Fragen zur 'mass-education' zu stellen. [...] Die Idylle der
kleinen, und deswegen kindgemŠ§en Schule, hŠlt sich nachhaltig. Bezogen auf das
System aber hat Schulreform ganz andere Probleme zu lšsen." (S. 157)
Seine Wertung, dass "staatliche Schulen sich
nur dann in die pŠdagogisch richtige Richtung bewegen, wenn sie sich den
reformpŠdagogischen Schulen angleichen, hat sich als nicht durchschlagend
erwiesen." Dagegen spreche die reformpŠdagogisch geprŠgte Schulpraxis
heute.
Im Abschnitt 4: 'Der Modus von Schulreformen' trŠgt
er Ergebnisse einer ZŸricher Dissertation vor. Diese untersucht die spezielle
Situation von ZŸrich, St. Gallen und Luzern untersucht und fšrdert zutage, dass
Schulreformprozesse weder linear noch phasenweise verlaufen. Sie fŸhren nicht
automatisch zu besseren VerhŠltnissen. Es gibt in diesem Prozess Fort- und
RŸckschritte, aber auch Schritte zu dieser oder jener Seite. Die Umsetzung
einer Reform lŠsst sich auch nicht erzwingen. Ob bottom-up oder top-down - es
gibt verschiedene ZusammenhŠnge und Vernetzungen verschiedener Beteiligter. Ein
konformes Verhalten dieser lŠsst nicht voraussetzen. Kompromisse seien nur
zeitlich begrenzt von Bestand. JŸrgen Oelkers weist darauf hin, dass das
Gelingen einer Schulreform von den handelnden Personen abhŠngt, von ihrer
FŠhigkeit die Ziele einer Reform zu kommunizieren.
Damit ist natŸrlich seine im Titel aufgeworfene
Frage, ob eine Schulreform ReformpŠdagogik benštigt, entschieden. NatŸrlich
nicht. Doch warum Ÿbt dann die ReformpŠdagogik so eine Faszination - bis heute
- aus?
In seinem Fazit im Abschnitt 5 kommt JŸrgen Oelkers
zu der Aussage:
"Ein Kind fŸr die Verwendung der 'klientenzentrierten' Rhetorik ist die Orientierung der šffentlichen Diskussion an den Zielen der Erziehung. Die Erziehung wird als Weg verstanden, auf dem zeitlich ferne ZustŠnde erreicht werden, ohne die ursprŸngliche Konstellation zu verŠndern. Der Mittelpunkt soll erhalten bleiben, obwohl sich gegenŸber dem Anfang alle Konstellationen verŠndert haben." (S. 162)
Er erklŠrt damit das Kind zur Nebensache im Prozess,
den Erwachsene aushandeln. Folgerichtig folgen diese Zeilen am Schluss seines
Beitrags:
"Kinder sind nie gefragt worden, ob sie wirklich im Mittelpunkt der Erziehung stehen wollen. Die reformpŠdagogische Doktrin ist also paternal, Erwachsene wissen besser, was fŸr die Kinder gut ist als diese selbst. Aber auch hšchste Zielsetzungen der Erziehung sind nicht mehr fallible Hypothesen, die sich in komplexen und hŠufig unabsehbaren Prozessen testen lassen mŸssen. Dein fester Mittelpunkt im Kreis ist dabei nicht sehr hilfreich." (S. 162)
Dahinter steht die Auffassung, dass Kinder auch gar
nichts hŠtten antworten kšnnen, weil sie keine Einsicht in die Folgen ihrer
Antworten haben. Klar, wenn man Schulkinder in der Erwachsenensprache danach
fragt, wie denn der Schulhof gestaltet werden soll, kommen nur Antworten auf
ihre momentanen WŸnsche. Macht man jedoch ein Projekt daraus, bei dem Kinder
diese Einsicht entwickeln kšnnen, FŸr und Wieder dieser und jener Gestaltung
abwŠgen kšnnen, die VerŠnderung ihrer eigenen WŸnsche bedenken kšnnen - auf
ihrer Ebene, in ihrer Sprache und AusdrucksfŠhigkeit - sind Kinder sehr wohl in
der Lage ihre Gedanken und †berlegungen einzubringen.
Die Sicht-Weise des Beitrages von JŸrgen Oelkers hat
je nach Standpunkt unterschiedliche Konsequenzen: FŸr JŸrgen Oelkers ist es die
Konsequenz, ReformpŠdagogik wird nicht gebraucht.
FŸr mich sieht das ganz
anders aus.
Otto Seydel
ReformpŠdagogik als kritisches Korrektiv
Otto Seydel beginnt seinen Beitrag mit dem Titel
seines ersten Abschnitts: 'Ich will lernen!' Jeder ErstklŠssler wŸrde seine
Schullaufbahn mit Vorfreude, Wissbegier und Neugier beginnen. Im Laufe der
Schulzeit wird jedoch daraus ein: 'Ich muss lernen', die Neugier wŠre gewichen,
ebenso die Wissbegier. Von 'Freude' sei ganz zu schweigen.
Zu Beginn seines zweiten Abschnitts stellt er einen
fatalen Gegensatz her: Das 'Lustprinzip' der SchŸler stehe gegen den
'pŠdagogischen Auftrag der Schule', den er natŸrlich zugunsten 'des
pŠdagogischen Auftrags der Schule' entscheidet.
Er stellt weitere Gegensatzpaare her: Eigenzeit -
gemeinsamer 'Takt' beim Lernen, formelles - organisiertes/kontrolliertes
Lernen, NŠhe - Distanz, SolidaritŠt - Distanz, Unsicherheit - Sicherheit,
Selbstbestimmung - Fremdbestimmung. Das unterstellt, dass SchŸlerInnen nur nach
dem Lustprinzip nichts, mit dem pŠdagogischen Auftrag der Schule dagegen alles
wichtige im Leben lernen. Bei Schleiermacher sei es das antipodische Paar von
'Eigenwert der Gegenwart fŸr das Kindes' und der 'Zukunft, auf die hin das Kind
erzogen werden soll'. Schule habe fŸr StabilitŠt zu sorgen, auch wenn sie dabei
vom Einzelfall absehen mŸsse.
In seinem dritten Abschnitt definiert er
'ReformpŠdagogik' als Pendelbewegung zwischen diesen GegensŠtzen. Sie sei
"eine Raktion auf extreme VerhŠrtungen und Verfestigungen des Schulsystems
des 19. Jahrhunderts und zugleich auf die gro§en Herausforderungen, die mit der
industriellen Revolution verbunden waren." (S. 166)
O'Neill (gemeint ist A. S. Neill), Rudolf Steiner,
Maria Montessori, CŽlestin und ƒlise Freinet sowie Hermann Lietz seien zwar
sehr verschieden, auch in ihren pŠdagogischen Konzepten, hŠtten ihre Gewichte
auf die Seite der ReformpŠdagogik gelegt. "Viele Impulse dieser Bewegung -
vom 'freien Schreiben' bis zum Projektunterricht, vom Wochenplan bis zum
Klassenrat - sind inzwischen von vielen šffentlichen Regelschulen
aufgenommen" (S. 167) worden.
Diese Zeit sei jedoch vorbei.
Im Abschnitt 4 prŠzisiert er
nochmals den Begriff 'ReformpŠdagogik' als 'permanenten Prozess' (S. 168) eine
Pendelbewegung, die die Balance der staatlichen Pflichtschule mit selektiven
AbschlussprŸfungen und ihrem sozialen Auftrag herstellen muss. ReformpŠdagogik
sei also nicht als 'Fokussierung' auf eine vergangene Epoche, kein dogmatischer
Streit um einzelne 'Methoden' sondern ein 'Evaluationsprinzip'. So verstehe
sich der Arbeitskreis 'Blick Ÿber den Zaun' als ein Verbund 'reformpŠdagogisch
orientierter Schulen', dem die Lernenden wichtig sind - so wie sie sind, nicht
so wie sie vielleicht sein sollten. "Sie haben ein Recht darauf, dass die
Schule fŸr sie da ist und nicht umgekehrt"(S. 169). Er stellt vier
Leitfragen: 'Was tut unsere Schule, um ..." vor, die immer und fŸr alle
Schulen unbequem seien. So gesehen sei Schulentwicklung ein " Auftrag
[...], der nie zu Ende kommen kann. Balance bedeutet Bewegung. Sie muss immer
neu hergestellt werden - nicht durch Konzepte oder Verwaltungsakte, sondern
durch Menschen. [...] Die WŸrde des Kindes ist unantastbar." (S. 170) Auch
die VorgŠnge in der Odenwaldschule kšnnten nicht zu "dem fatalen
pauschalisierenden Kurzschluss (fŸhren, EinfŸgung JG): ReformpŠdagogik =
Toleranz gegenŸber sexueller Gewalt. [...] Kaum eine gesellschaftliche
Einrichtung - Familien, Kirchen, Sportvereine, Showbusiness, - ist vor solchen
Verbrechen geschŸtzt." (S. 170) Es sei vielmehr zu vermuten, dass diese
VorgŠnge "heute zum Anlass genommen [...] (werden. EinfŸgung JG), das
beschriebene Pendel, dass so krŠftig in Richtung 'Individualisierung zu
schwingen scheint, anzuhalten und wieder zurŸckschlagen zu lassen." (S.
171)
Diese Sicht-Weise schlŠgt Otto
Seydel vielleicht eine neue Seite auf: ReformpŠdagogik ist nicht die bessere
PŠdagogik, sondern die stŠndige Mahnung 'Schule und Erziehung nicht einer
Ideologie - politisch, wirtschaftlich oder pŠdagogisch - zu Ÿberlassen, sondern
sie immer wieder an den Menschen, an die Lernenden, an die Kinder zurŸckzubinden.
So gesehen steht sie immer im Mittelpunkt. Chapeau! Es darf nur nicht vergessen
werden, dass dieses Pendel nicht nach den Gesetzen der Schwerkraft schwingt, sondern
von handfesten Interessen gesteuert und in Gang gehalten wurde und wird.
Michael So‘tard
Neue Sichtweisen der ReformpŠdagogik
Michael So‘tard betrachtet
die ƒducation nouvelle, die franzšsische ReformpŠdagogik. Auch ihr sei es nie
gelungen, ihre
"einzelne(n) isolierte(n) Experimente zu Ende zu fŸhren. Wohl mag es ihr geglŸckt sein, mit ihren Ideen den harschen Boden der alltŠglichen PŠdagogik unmerklich zu berieseln, und hier und da hat sie dank des guten Willens und des Geschicks einzelner Erzieher und Lehrer bemerkenswerte Resultate erzielt und das bis heute. Dieses Paradoxon kšnnte eine ErklŠrung in der Eigenheit des franzšsischen Erziehungssystems finden, das nach dem strengen Prinzip eines exklusiven Zentralismus aufgebaut ist und faktisch keine alternative PŠdagogik duldet." (S. 173)
Michael So‘tard Ÿbersieht
dabei, dass es keinen 'exklusiven Zentralismus' braucht, um keine alternative
PŠdagogik neben sich zu dulden. Auch der Nationalsozialismus war Grund genug,
dass 'Experimente' der ReformpŠdagogik nicht 'zu Ende' gefŸhrt werden
konnten. Damit wird auch wieder
die Seite verblŠttert, die Otto Seydel mit seinem Beitrag šffnen wollte.
Michael So‘tard dršselt die
ReformpŠdagogik von Johann Heinrich Pestalozzi und Jean-Jacques Rousseau her
auf. Johann Heinrich Pestalozzi habe Jean-Jacques Rousseau als
"'Wendepunkt der alten und neuen Welt in der PŠdagogik' betrachtet"
(S. 173)
Den Satz aus Rousseaus Gesellschaftsvertrag: 'Der Mensch ist
frei geboren und Ÿberall liegt er in Ketten' mŸsse als ein Satz gesehen werden: WŠre der Mensch tatsŠchlich absolut frei,
kšnne er sich seiner Bedingtheit nicht bewusst werden - und lŠge er tatsŠchlich
Ÿberall in Ketten kšnne er sich seiner Freiheit nicht bewusst werden. "Der
Widerspruch gŠrt im Zentrum der menschlichen Existenz, und wir sehnen uns
vergebens nach seiner †berwindung (Bšhm, Grell, 1991, S. 39ff)" (S. 174f)
Die wichtigste Aufgabe des Erziehers sei es, den Menschen zu entziffern und zu
verstehen.
Michael So‘tard weist darauf
hin, dass Rousseau diesen Spagat durch einen Kunstgriff 'Ÿberwindet'. Er nehme
fŸr sich als Autor und als Subjekt die 'TrŠumereien eines Phantasten Ÿber
Erziehung' (S. 175) in Anspruch. So sei es ihm mšglich "den Widerspruch
zwischen hochfliegender Idee und nackt dastehender RealitŠt zu Ÿberwinden und
gleichzeitig die Kraft zu entfalten, sich Ÿber den unlšsbaren Konflikt zwischen
Freiheit und AutoritŠt [...] zu ergeben. Auf den FlŸgeln des Traums entwirft
Rousseau eine neue Form des LeibesverhŠltnisses, eine neue Gestalt des Staates
und eine neue Weise des ErziehungsverhŠltnisses [...], (und nimmt, EinfŸgung
JG) jedes Mal [...] dabei die Verantwortung des Subjekts in Anspruch." (S.
176)
Johann Heinrich Pestalozzi
habe 'schmerzlich' erfahren mŸssen, das die Anwendung der Rousseau'schen Idee
in einer von diesem Widerspruch durchzogenen Welt nicht mšglich ist. Die in den
WerkstŠtten erzeugten Produkte seien wegen mangelnder QualitŠt vom Markt nicht
angenommen worden, das Arbeitsklima in den WerkstŠtten sei von Konkurrenz
geprŠgt gewesen, 'Neid und Eifersucht' hŠtten die sozialen VerhŠltnisse
vergiftet. Die Eltern hŠtten ihre Kinder nach Hause geholt. Die WerkstŠtten
wŠren am Ende gewesen. Johann Heinrich Pestalozzi habe einsehen mŸssen, dass
sich die Gesetze der Industrie nicht mit philanthropischen Ideen, mit der
menschlichen Natur und der christlichen Weltanschauung vereinbaren lassen.
Seine Weltanschauung habe sich grundlegend verŠndert. Aus der brŸderlichen Verbindung
zwischen menschlichem Ideal und der harten Natur wird eine moralische Perspektive
und die Pflicht zur Menschenbildung. (S. 177f) Der Mensch sei eine
selbstverantwortliche Person und damit ein Baumeister, "der die
SchutzwŠlle gegen diese MŠchte (Spannungen in der Gesellschaft, triebhaftes
Begehren, habgierigen Eigennutz, EinfŸgung JG) in einem fort und immer wieder
neu aufzurichten versucht. (Bšhm, 1995, S. 114)" (S. 178) Damit sei auch
die Aufgabe der PŠdagogik umrissen: Die glŠubige AttitŸde des Christentums ist
nun der Mittelpunkt des Erziehungshandelns. Die Arbeitsmittel werden diesem
hšheren Ziel untergeordnet. (S. 180)
Im fŸnften Abschnitt seines Beitrages stellt Michael
So‘tard auf diesem Hintergrund bei den PŠdagogen der ƒduction nouvelle vier MissverstŠndnisse fest: 1. Ein SchŸler lernt nur, wenn er motiviert
ist, 2. Jedes Kind lernt nach seiner
eigenen Art und das erfordert eine Schule nach Ma§, 3. Learning by doing und 4. Erziehung
muss demokratisch sein. Apodiktisch stellt er fest, dass ein Kind "von
der vŠterlichen AbhŠngigkeit zur reifen Autonomie gefŸhrt werden." (S.
182)
Im sechsten Abschnitt entfaltet er die gemeinsame
Wurzel dieser 'MissverstŠndnisse': Ein 'ma§- und grenzenloser Naturalismus'
verneble 'das Denken und Tun der Vertreter der ƒducation nouvelle' (S. 182).
Wieder dient der Blick auf die GrŸndervŠter, auf den 'dialektischen Charakter
des Naturbegriffs' als Grundlage fŸr sein Urteil. Der Grund sei, dass die ƒducation nouvelle ungebremst
positivistisch sei und die Psychologie "als die hšchste Wissenschaft"
(S. 183) etabliere. Er habe in seinen Arbeiten versucht zu zeigen, dass sich
die PŠdagogik Rousseaus "und ihre konkrete Anwendung in der Methode
Pestalozzis sich mit dieser wissenschaftlichen Position nicht vertrŠgt."
(S. 183)
Eine wichtige Stufe bei Pestalozzi bestehe "in
der EinfŸhrung des Bšsen in die dennoch grundsŠtzlich als gut betrachtete Natur
des Menschen." Dies sei aber bei Pestalozzi nicht eine Folge der ErbsŸnde
sondern resultiere daraus, dass der Mensch die Freiheit habe sich auch fŸr das
Bšse zu entscheiden. Dies hŠtten die Vertreter der ƒducation nouvelle meistens Ÿbersehen. Bei ihnen sei "das
moralische Verhalten nur eine Fortsetzung des sozialen" (S. 184). Weil
aber der PŠdagoge nicht Ÿber den Willen des Lernenden verfŸge, kšnne er auch
nicht sagen, wie sich dieser im konkreten Fall entscheide. Es sei ein Irrglaube
der wissenschaftlichen Erziehung, diese Entscheidung eines Menschen bestimmen
zu kšnnen. FŸr Johann Heinrich Pestalozzi ist daher der christliche Glauben die
entscheidende Verbindung zwischen Wissenschaft und Natur. Nur durch ihn kšnne
eine "echte Beziehung zum Kot der Welt auf der einen und zur hšheren
Bestimmung des Menschen auf der anderen Seite" (S. 185) hergestellt
werden.
Am Beispiel des kindlichen Interesses werde klar:
"FŸr die einen ist das Interesse des Kindes das, 'was es interessiert', fŸr die anderen ist es, 'was in seinem Interesse ist'. Hier wie anderswo ist man in die Kneifzange zwischen einer endogenen Konzeption der Erziehung gefangen, die auf die freie Entscheidung des Subjekts verweist, und einer exogenen Konzeption, welche eine fremde Intervention, sowohl bezŸglich der Ziele als auch der Methode, woraussetzt. Nun hŠngt das Gelingen des erzieherischen Unternehmens just von der KapazitŠt des PŠdagogen ab, zur selben Zeit (und nicht nacheinander) das Endogene und das Exogene zu artikulieren." (S. 185f)
Diese interessante Sicht-Weise von Michael So‘tard wirft
einen klaren Blick auf wichtige Fragen der Erziehung im 19. Jahrhundert. Die
Ausgangssituation der ReformpŠdagogen hatte diese Fragen jedoch nicht im Blick.
Die tatsŠchliche PŠdagogik des ausgehenden 19. Jahrhunderts war weder an den
Interessen des Kindes, noch daran, was im Interesse des Kindes sein sollte orientiert,
sondern vornehmlich an den Interessen der Obrigkeit, der Herrschenden und der
entstehenden kapitalistischen industriellen Kultur.
Mir scheinen daher die Urteile von Michael So‘tard
fragwŸrdig. Die Begeisterung fŸr die Ziele und Rhetorik der ReformpŠdagogik,
der gro§e Erfolg des Buches von Ellen Key: 'Das Jahrhundert des Kindes' genauso
wie das auch heute noch anhaltende Interesse fŸr ReformpŠdagogik ist weder mit
der AufklŠrung Ÿber oberflŠchliche Sichtweisen in pŠdagogischen Grundsatzfragen
noch mit der grŸndlichen Diskreditierung reformpŠdagogischer AnsŠtze oder
Leitfiguren weg-zu-erklŠren oder zu erschŸttern. Ellen Key hat damals auf einen
grundlegenden Fehler im pŠdagogischen Denken aufmerksam gemacht, der bis heute
offensichtlich nicht ausgerŠumt ist: Kinder werden von gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftlichen Interessen vereinnahmt, gelenkt und
standardisiert. Sie sollen
Sichtweisen entwickeln, die dauerhaft mit ihrem Erleben und Wahrnehmen der Welt
nicht Ÿbereinstimmen und dazu oft in
eklatantem Widerspruch stehen.
Heinz-Elmar Tenorth
ReformpŠdagogik - Erbe und Tradition
Er unterscheidet drei
Existenzweisen von 'ReformpŠdagogik': Erstens als Diskurs Ÿber 'Neue
Erziehung', zweitens als Gegenstand von 'historischer Bildungsforschung' und drittens
aktuell als Jargongausdruck fŸr 'Reform im Erziehungswesen'. (S. 190f) Heiner
Ullrich benennt die drei Existenzweisen so: "der RP in ihren historischen Ideen und pŠdagogischen
Gestalten (vergangene Geschichte), der RP in ihren aktuellen Programmen und Praxen innovativer Erziehung (aktuelle
Innovation) und der RP als bis heute 'inspirierendem Reservoir der grundlegenden pŠdagogisch-professionellen
Erfindungen der Moderne (professionsethische Orientierung).'" (S. 200f)
Das Interesse von
Heinz-Elmar Tenorth konzentriert sich auf die historiographische Sichtweise,
der Beobachtung aus der Distanz. (S. 192) Aus dieser Perspektive scheint ihm
ein Befund stabil, "dass nŠmlich Reformen der Erziehung scheitern,
jedenfalls gemessen an ihren eigenen Ambitionen." (S. 194) Das kšnne
"man nicht nur von Chicago - und bei Dewey - bis Oberhambach - und bei
Lietz - sehen, sondern auch in Hamburg, Leipzig oder Neukšlln." (S. 194)
Er schlie§t mit einem
Auftrag an die ReformpŠdagogik: Sie kšnne den Sinn des Scheiterns erklŠren,
vielleicht sogar seine Notwendigkeit begrŸnden. "Aber es kšnne sich auch
lohnen, 'ReformpŠdagogik' in dieser Perspektive historiographisch zu
betrachten, als Titel fŸr die Paradoxie der Erziehung und deren Radikalisierung
in der Moderne." (S. 194)
Ich muss gestehen, fŸr mich
ergibt sich aus diesem Beitrag keine Sicht-Weise auf die ReformpŠdagogik. Meine
Antwort auf die Frage, warum die Reform der Erziehung scheitert ist, dass schon
der Begriff Erziehung ganz grundlegend Ÿbersieht, dass das Handeln eines
Menschen nicht vorhersagbar ist. Erziehung ist fŸr mich immer nur der Versuch
ein erwŸnschtes Verhalten zu erreichen. Da fŸr mich ein Mensch einen freien
Willen hat, kann dieser Versuch grundsŠtzlich nur offen angelegt sein. Er kann
sich so verhalten - oder eben auch nicht. Und das ist gut so!
Heiner Ulrich
Theoretische Konzepte von ReformpŠdagogik und empirische Studien zu
reformpŠdagogischen Schulstrukturen - zwei unterschiedliche Wege der AnnŠherung
JŸrgen Oelkers Konzept der ReformpŠdagogik ist schon
ausfŸhrlich Gegenstand dieser Rezension gewesen.
Ein anderer Weg der
AnnŠherung werde von Theodor Schulz entfaltet. FŸr diesen sei sie eine
'kollektive Bewegung', die sich primŠr auf die Praxis richtet.' (S. 197) Die
ReformpŠdagogen hŠtten auf 'Isolation, Wirklichkeitsferne, Abstraktion und
einseitige Betonung der kognitiven Dimensionen des Lernens' reagiert.
"Fomalisierung, Regulierung, Uniformierung und Zensierung sto§en bei
Lernenden auf WiderstŠnde. Die Formen des schulischen Lehrens und Lernens
werden als reformbedŸrftig erfahren. [...] Anders als fŸr JŸrgen Oelkers ist
die ReformpŠdagogik weder eine historiographische Fiktion noch ein lŠngst
gescheitertes Projekt; es bedarf vielmehr ihrer Anstš§e zu einer Schulreform
'von unten' heute mehr denn je." (S. 197f)
Andreas Flitner habe 1992
den Leitbegriff 'Reform der Erziehung' geprŠgt und so 'aus einer
Historiographie der vergangenen ReformpŠdagogik' den Weg in ein
'zukunftsoffenes Programm permanenter erziehungspraktischer Reformen' geebnet.
(S. 199)
Heiner Ullrich will die 'die
Gestalt des reformpŠdagogischen Codes und seine Genese ideengeschichtlich [...]
rekonstruieren' (S. 201) und findet ein mehrschichtiges GefŸge: Die Grundlage
ist eine romantische Auffassung des Kindes, das eine vollkommenere Zukunft in
sich trŠgt. - Tut es das? Ein zweites Element ist das pŠdagogische VerhŠltnis
als Dialog. - Ist das nicht oft
ein Herrschaftsdialog? - Drittes Element ist die Schule als Lebensraum mit
reichhaltigem Schulleben. - Von den Lehrern fŸr die Kinder inszeniert? - Das
vierte Element sieht Heiner Ullrich als Methode des Lehrens mit dem Ziel der
SelbsttŠtigkeit und des vielfŠltigen kreativen Ausdrucks - nicht sachlogisch
sondern genetisch, von den UrsprŸngen des kindlichen Verstehens. - Nur von den
UrsprŸngen aus, nicht am kindlichen Verstehen selbst orientiert? Die Inhalte -
fŸnftes Element - sollen unmittelbare Erfahrung ermšglichen, sie werden in
offenen, Ÿberfachlichen ZusammenhŠngen bzw. projektorientierten Formen erarbeitet
(S. 202). - Wer wŠhlt die Erfahrungen aus, die gemacht werden sollen oder
mŸssen? -
Heiner Ullrich macht darauf
aufmerksam, dass sich - trotz des
Vorwurfes der Erfolglosigkeit der ReformpŠdagogik von JŸrgen Oelkers und trotz
der Verabschiedung der reformpŠdagogischen Denkform durch Winfried Bšhm als
'Schnee vom vergangenen Jahrhundert' - die klassischen und die neuen
reformpŠdagogischen Schulmodelle heute weltweiter WertschŠtzung erfreuen: Es
gibt mehr als 400 Montessori-Schulen, ca. 230 freie Waldorfschulen, 50
Jena-Plan-Schulen sowie mehr als 20 Freinetschulen und ca. 80 Freie
Alternativschulen allein in Deutschland. In ihnen gehe es nicht nur um
Qualifikation und Selektion sondern um Kinder und um Ganzheitlichkeit.
Er fragt aber auch, ob denn
diese Schulen ihre Ziele verwirklichen kšnnen. Bisher habe sich immer gezeigt,
dass die erwŸnschten Resultate nicht erreicht worden seien. Exemplarisch hat
Heiner Ullrich das an Waldorf- und Montessorischulen am Beispiel des
Aufnahmeverfahrens untersucht. Sein Ergebnis: An beiden Schulen werde durch das
Aufnahmeverfahren vor allem ExklusivitŠt hergestellt. "Wer diese Schule
gewŠhlt hat, damit sein Kind vor allem Freude am Lernen in einer
altersgemischten Lerngemeinschaft erfahren soll, gerŠt schnell ins Abseits."
(S. 208) Es gehe in diesen Aufnahmeverfahren eher um 'die Wahrnehmung und
Artikulation von Unterschieden zu den šffentlichen Regelschulen, [...] (um die,
EinfŸgung JG) Vergemeinschaftung mit den Ÿbrigen Eltern und (um die, EinfŸgung
JG) Identifikation mit der reformpŠdagogischen Programmatik' (S.208) der
jeweiligen Schule.
So kritisch und
problematisch man dieses Procedere auch sehen mag, so kritisch und
problematisch ist auch diese Bewertung durch Heiner Ullrich zu sehen. Sind die
'Ÿbrigen Eltern' an diesen Schulen wirklich so eine eingeschworene Gemeinschaft?
Ist 'Freude am Lernen' an diesen Schulen nicht mšglich. Machen Eltern ihre
Entscheidung, ihr Kind an eine solche Schule zu geben, wirklich hauptsŠchlich
von den Unterschieden zu den šffentlichen Regelschulen abhŠngig. ...
NatŸrlich kann man das so sehen, muss es aber nicht. Es geht immerhin jeweils
um ein reales Kind und eine meist langfristige Entscheidung der Eltern fŸr den
Bildungsweg ihres Kindes - das
scheint Heiner Ullrich zu Ÿbersehen.
Die Folgerung aus dieser
Sicht-Weise scheint mir die zu sein, dass sich Eltern wirklich die Zeit nehmen
und sich mit dieser Entscheidung plagen sollten: Ist diese Schule und ihr
Bildungsweg wirklich eine gute Entscheidung fŸr unser Kind? Egal ob es um eine
šffentliche oder reformpŠdagogische oder alternative Schule geht.
Rupert Vierlinger
Direkte Leistungsvorlage (Portfolio-System) statt Ziffernnoten
Rupert Vierlinger erinnert
daran, dass Noten in der Schule keine genuin pŠdagogische Erfindung sind,
"sondern ehr das Ergebnis eines polit-bŸrokratischen Disziplinierungsaktes gegen die aufmŸpfige Jugend. [...] Der 'Deutsche Bund' reagierte (auf die fehlgeschlagene studentische Revolte des 'VormŠrz', EinfŸgung JG) unter der FederfŸhrung Metternichs mit der EinfŸhrung des 'MaturitŠtszeugnisses' als ZugangsbeschrŠnkung zur UniversitŠt bzw. als Kontroll- und Observierungsinstrument. Das Ziffern-Noten-Zeugnis, das dem Gymnasium einen massiven Prestigegewinn verschafft hatte, wollten die anderen Schulen auch haben - und es wurde ihnen von der Behšrde gerne zugestanden (Breitschuh 1991). Von der pŠdagogischen Wissenschaft wurde es freilich von Anfang an argwšhnisch beŠugt. Mittlerweile ist die Kritik so heftig geworden, dass es an der zeit ist, nach einem neuen Instrumentarium der schulischen Leistungsbeurteilung zu greifen." (S. 213)
Die Alternative stammt von
Fritz Karsens, dem Leiter der staatlichen Aufbauschule in Berlin-Neukšln. Er
war Mitglied des Bundes der entschiedenen Schulreformer'. Er sammelte das ganze
Schuljahr hindurch Protokolle, Berichte und Ergebnisse von
Gemeinschaftsarbeiten in einer Arbeitsmappe, die in gebundener Form die einzige
Form des Zeugnisses war. (Es erinnert an das 'Cahier de vie' - Heft des Lebens
- in gedruckter Form bei CŽlestin Freinet.) 1978 trat Rupert Vierlinger mit der
von ihm entwickelten Mappe DLV - Direkte Leistungsvorlage - anstelle eines
Zeugnisformulares an die …ffentlichkeit.
Aus dem Bericht von Fritz
Karsens entnahm er, das dessen
erster Versuch doch wieder zu einer Beurteilung durch die Lehrer mutierte. Sein
zweiter Versuch bestand darin, dass die Jungen selbst aus den Arbeiten, die sie
als wertvoll hielten, die Mappe zusammenstellten. Das Ergebnis habe ihn sehr in
Erstaunen versetzt. Die Mappe sein nicht nur fŸr ihn, sondern auch fŸr die
Eltern und fŸr den SchŸler selbst 'unendlich aufschlussreich' gewesen. (S. 215)
NatŸrlich habe er heftigen
politischen Gegenwind fŸr seinen Vorschlag bekommen. Sein 'Ansuchen um
Genehmigung eines Schulversuches mit DLV' wurde vom šsterreichischen
Schulministerium - wie nicht anders zu erwarten - brŸsk abgelehnt.
Aber er habe mit Hilfe der
Kollegenschaft 'diese Sekundarstufe I als 'echte' Gesamtschule geschaffen, d.h.
also ohne Sortierung in
Leistungsgruppen.' (S. 215f) In der Fu§note nennt er die Gesamtschulen mit
Leistungsgruppen 'verlogen', sie seien weder 'Gesamt' noch Integriert. Die DLV
habe auch in …sterreich und in den USA viel Zustimmung erhalten. Sie erlaube
mehr individuelle Fšrderung, pole den Beurteilungsstress von Auslese auf Fšrderung
um, reduziere ihn oder eliminiere ihn. SchŸler wŸrden gesteigerte Lernfreude
zeigen, mehr Verantwortung fŸr ihr Lernen Ÿbernehmen, weniger Leistungsdruck/Konkurrenzkampf
erleben, mehr Hoffnung auf Erfolg haben. In den USA sei man im Staat Vermont
davon abgekommen Lehrerstudenten nach standardisierten Tests zu beurteilen,
sondern 'solche Mappen mit Materialien Ÿber die Schulpraktischen Versuche und
sonstige Ausarbeitungen' besonders (zu, EinfŸgung JG) gewichten.' (S. 217)
Bei einem Versuch mit 200
Experten - Schulaufsichtsbeamten, Fachgruppenleitern, Direktoren - haben diese selbst
erfahren mŸssen, dass ein Aufsatz von ihnen zwar zu 90 % in Bezug auf Inhalt
und Sprachgestaltung mit 2, 3 oder 4 (im šsterreichischen fŸnfstufigen
Bewertungssystem) beurteilt wurde, dass aber doch rund 5 % den gleichen Aufsatz
mit 1 (hšchst origniell, psychologische Sublimierung) beurteilten oder eben mit
5 (nicht genŸgend, Thema verfehlt). Auch in der Mathematik gehe es nicht
weniger 'gerecht' zu. Ein Mathematiklehrer habe seinen fŸnf Fachkollegen eine
Arbeit vorgelegt und ebenso die gesamte Bandbreite an Beurteilungen erhalten.
Die empirischen Belege Ÿber das Fehlen der GŸtekriterien ObjektivitŠt, ReliabilitŠt
(ZuverlŠssigkeit), und ValiditŠt (GŸltigkeit) seien beinahe Legion. (S. 219)
Ob es nun um den †bergang
zur weiterfŸhrenden Schule geht: 'Aber nach der vierten Klasse der Gundschule mŸsse
man doch die 'Bšcke von den Schafen' trennen' (!) oder die in Deutschland
Ÿbliche Numerus-Clausus-Berechnung auf Hundertstelstellen, ob um gema§regelte
LehrerInnen - wegen ihres kategorischen Notenboykotts: Die Note werde 'zum
beherrschenden Kriterium des Schulerfolgs' und damit sei das 'Lernen um der
Note willen' programmiert.
Es ist der Wechsel von der
Kollektivnorm zur Individualnorm, unabhŠngig vom 'SchŸler-Geleitzug'. Dort
bleibe der Letzte immer der letzte, auch wenn er vorankomme. "Das
Honorieren des individuellen BemŸhens und seines Ergebnisses (bewirkt,
EinfŸgung JG) den grš§ten Leistungsanreiz und Lerneffekt." (S. 223) Fritz
Redl habe die Ziffernbenotung mit einem Hunderennplatz verglichen. Auf diesem
werde nicht Freundschaft oder gar gegenseitige Zuneigung geweckt. Durch die mit
der Ziffernnote verbundene Festlegung einer Rangfolge nimmt das 'Klima des
Miteinanders' Schaden. Der stŠndige Vergleich: 'Wer ist besser?' erzeuge Angst,
fŸr die am Ende des Rankings eine Reihe von TiefschlŠgen, die die betroffenen
SchŸlerInnen paralysiert. Rupert Vierlinger konstatiert: Sie resignieren. Angst
beflŸgele das Denken nicht, sondern lŠhme es. Mit einem Verweis auf Manfred
Spitzer stellt er fest, dass die Schule 'mit ihrem angsterzeugenden System der
Leistungsbeurteilung' sich 'einen Gutteil ihrer Disziplinschwierigkeiten selbst
einhandele, 'indem sich die SchŸler nicht nur absentieren, sondern sich auch
fŸr erlittene KrŠnkungen rŠchen.' "Der vom Lehrer und von der Klassengemeinschaft
registrierte und gewŸrdigte Erfolg des Einzelnen wird zum NŠhrboden seiner
Motivation, wŠhrend die an der Kollektivnorm orientierte Ziffernnote zum
Zusammenbruch der Lernbereitschaft fŸhren kann."(S. 225)
Die Sicht-Weise von Rupert
Vierlinger macht sehr deutlich, dass eine andere Schule, eine (wirklich) reformpŠdagogische
Schule, nicht ohne ein anderes Beurteilungssystem und nur ohne Ziffernsystem,
ich mšchte ergŠnzen: auch nicht mit Šquivalenten Textbausteinen, zu haben ist.
Ziffernsysteme - oder standardisierte Texte, die anstatt Ziffernnoten verwendet
werden, vermitteln nur eine scheinbare ObjektivitŠt, nur eine scheinbare
bessere oder einfachere Vergleichsmšglichkeit und sind fŸr pŠdagogische Ziele
kontraproduktiv.
Es gibt noch einen zweiten wichtigen
Punkt in dieser Sicht-Weise: Das Portfolio gewinnt deutlich - vor allem auch in
den Augen der SchŸler - wenn es nicht aus geforderten
Berichten, Protokollen und Ergebnissen von Gemeinschafts- oder auch
Einzelarbeiten besteht, sondern
aus Arbeiten, die sie - die SchŸlerInnen
- selbst fŸr wertvoll halten. Schon bei Fritz Karsen ist dieser Wechsel von
entscheidender Bedeutung. Fritz Karsen sagte selbst (1924), das er gelernt habe,
seine SchŸler - selbst die, die er genau zu kennen glaubte - durch die ihre selbst
zusammengestellten Mappen ganz anders zu sehen. (S. 215) Eine bemerkenswerte
Aussage dieses ambitionierten ReformpŠdagogen.
Rainer Winkel
Intra oder extra muros?
(innerhalb oder au§erhalb
der Mauern?)
Rainer Winkel geht es um
einen erziehenden und bildenden Unterricht und um die Kritisch-Kommunikative
Didaktik. Diese wŸrde sich am wirklichen Schulalltag orientieren. Andere
Didaktiken seien mehr an Begriffen, Analysen, Schemata und Theorien
interessiert - 'Feiertagsdidaktiken' eben. PrŸfungsstoff im ersten und zweiten
Staatsexamen. Entscheidend seien jedoch zehn Fragen: "1. Wer lehrt mit 2.
wem 3. was und 4. wen, aber auch 5. wie und 6. warum sowie unter 7. welchen
Bedingungen und mit 8. welchen Zielen und Folgen sowie 9. welchen
Leistungskontrollen und unter 10. welchen realen Folgen bzw. mšglichen
Schwierigkeiten und Stšrungen?" (S. 238) Diese 10 Fragen sind nicht als unterrichtliches
Planungsinstrument zu verstehen ergeben aber einen didaktischen
Problemhorizont. Es gehe darum 'ein kritisches und handlungskompetentes
Bewusstsein" zu entwickeln, sonst entstehe unterrichtliches Chaos.
...
Wenn Rainer Winkel von
Didaktik und Mathethik spricht und weiterhin fortlaufend aus didaktischer Sicht
spricht begeht einen grundlegenden Fehler: Er trennt m.E. nicht genug zwischen
Lehren und Lernen.
Lehren ist traditionell eine
TŠtigkeit der LehrerInnen. Diese benštigt naturgemŠ§ eine Didaktik - welche
auch immer - um die eigene TŠtigkeit planerisch zu rechtfertigen und zu
organisieren. Lernen dagegen ist eine TŠtigkeit der SchŸlerInnen und kommt
demzufolge auch ohne jede Didaktik aus. Lehrer blicken naturgemŠ§ durch die didaktische
Brille - wŸrden sie auch durch die mathetische Brille das Schulgeschehen, den
Unterricht betrachten, sie wŸrden ihren Arbeitsplatz nicht
wiedererkennen.
Es ist absurd in einer
Klasse mit 20 oder 30 SchŸlerInnen zu planen, was wie wem wann beigebracht
werden soll und kann. Weil fŸr jede SchŸlerIn eine andere Planung notwendig
wŠre - egal nach welcher Didaktik man verfŠhrt. Der einzige wirkliche Ausweg
aus dieser Situation ist das Aufgeben jeder didaktischen Planung zugunsten
einer Mathetik, um das Lernen der SchŸlerInnen zu ermšglichen.
Er erinnert sich an seinen
Biologielehrer, dem es nicht auf darauf ankam, die richtigen Antworten zu
wissen, sondern (sich selbst, EinfŸgung JG) die wichtigen Fragen zu stellen. Statt zu verraten, wie die Antworten lautete,
habe er seine SchŸlerInnen aufgefordert: 'Kriegt das gefŠlligst selbst heraus!'
Er hat also konsequent aus mathetischer Sicht gefragt, wie schaffe ich es, dass
sich die SchŸlerinnen die wichtigen - die fŸr sie individuell wichtigen -
Fragen selbst stellen und nach ihren
Antworten suchen. Zusammen mit den MitschŸlerInnen und dem Lehrer wurden diese
Antworten in einem kritischen Licht Ÿberarbeitet und ŸberprŸft, ob denn ihre
Hypothesen erklŠrt oder verworfen werden mŸssen.
Die Mauer verlŠuft nicht
zwischen den Didaktiken, sondern zwischen Didaktik und Mathetik, zwischen
Lehren und Lernen. Klaus Holzkamp hat dieses MissverstŠndnis auf den Punkt
gebracht: "Lehren als Lernbehinderung?"
Und
wo bleiben dabei die SchŸlerinnen und SchŸler? Nun, einerseits ist dies (gemeint
ist der Unterricht du die Schule selbst, EinfŸgung JG) alles ja eigens fŸr sie
(die SchŸlerInnen, EinfŸgung JG) veranstaltet: Sie sollen durch die Schule
lebenstŸchtige, verantwortungsbewu§te, kreative, glŸckliche Erwachsene werden.
So gesehen wŠre das Lernen in der Schule also im unmittelbaren vitalen
Interesse der SchŸlerinnen und SchŸler. Andererseits aber spielen diese in dem
vorgesehenen Arrangement offensichtlich nicht so richtig mit, m٤ten zum Lernen
gezwungen werden, aber lassen sich irgendwie nicht recht zwingen, leisten
Widerstand, entziehen sich, mogeln sich durch; selbst denen gegenŸber, die sich
anpassen und mitmachen, scheint hŠufig Mi§trauen angebracht. Wenn man von au§en
(quasi mit dem ethnologischen Blick) auf das Ganze schaut, hat man den
Eindruck, da§ SchŸlerinnen und SchŸler in der Schule eher stšren. Die Schule
wŸrde besser funktionieren und das Ergebnis wŠre fŸr alle befriedigender, wenn
sie nicht da wŠren. Weil ihre Anwesenheit in der Schule ja nun aber unumgŠnglich
ist, mu§ man diesen Stšreffekt mšglichst kleinhalten. Also etablierte man zur
Schadensbegrenzung das umfassende Kontrollsystem, wie wir es heute in verschiedenen
Varianten vorfinden: Angefangen von der Anwesenheitskontrolle, dem Verbot,
seinen Platz oder den Raum zu verlassen, Ÿber das Versetzungssystem und die
Zensurengebung bis zu den mannigfachen in den Unterricht selbst eingebauten Kontrollma§nahmen.
So gesehen wŠre die Schule also eine Einrichtung, um die SchŸlerinnen und
SchŸler zu dem zu zwingen, was sie doch eigentlich selber wollen mŸ§ten,
nŠmlich in ihrem eigenen Interesse zu lernen.[1]
Die Sicht-Weise von Rainer
Winkel setzt
sich mit Didaktik und Mathetik auseinander. Ich meine, ReformpŠdagogik
erfordert eine mathetische Sicht-Weise fŸr das unterrichtliche Geschehen.
Didaktische Sichtweisen gibt es genug - aber sie stellen eben nicht das Kind
und sein Lernen in den Mittelpunkt.
ResŸmee
Uff - diese
reformpŠdagogischen Sicht-Weisen waren ein schšnes StŸck Arbeit, im doppelten
Sinn. Es hat mir Freude gemacht, mich in diese Sicht-Weisen hineinzudenken -
oder es zumindest zu versuchen.
Maren Gronert und Alban
Schraut haben eine eigenwillige Idee gehabt und umgesetzt. Sie ist gelungen.
Die Sicht-Weisen sind in ihrer Gesamtheit so sperrig, wie die ReformpŠdagogik
selbst. Aus dem Beitrag von Otto Seydel kšnnte jedoch deutlich werden, dass die
ReformpŠdagogik nicht als die - per se - bessere, schlechter, gescheiterte oder
erfolglose PŠdagogik gesehen werden sollte, sondern als stŠndige Mahnung:
'Schule und Erziehung nicht einer Ideologie - politisch, wirtschaftlich oder
pŠdagogisch - zu Ÿberlassen, sondern sie immer wieder an den Menschen, an die
Lernenden, an die Kinder zurŸckzubinden' begriffen werden mŸsste und als
Aufgabe, das Kind endlich und wirklich, aber auch wirklich in den Mittelpunkt
zu stellen. Es geht um die Interessen jedes einzelnen Kindes zum Motor seines
Lernens machen und nicht darum, in diesen Mittelpunkt das zu stellen, was im Interesse
des Kindes sein sollte.
Autor der Besprechung:
JŸrgen Gšndšr
juergen@goendoer.net
[1] Klaus Holzkamp [1991]; Lehren als Lernbehinderung? In: Forum Kritische Psychologie 27 (1991): Argument-Verlag, Seite 5-22 - Vortrag, gehalten auf dem schulpolitischen Kongre§ der GEW Hessen, ÈErziehung und Lernen im WiderspruchÇ, am 3.11.1990 in Kassel.