Aufsatz von Andreas Pehnke
 

Waldus Nestler, Leipziger Friedens- und Reformpädagoge

 

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Nestler, Waldus, * 31.3.1887 Meißen, † 19.5.1954 Döbeln

1919 Heirat mit Louise Jaeschke (1897-1981)

Sohn:  Reinhart Nestler (1920-1953), Ökonom; Helwig (Jg. 1925), Architekt

Tochter:  Brigitte Haas, geb. Nestler (Jg. 1924), Ärztin


Nach dem Besuch der Fürstenschule St. Afra, einem humanistischen Gymnasium seiner Geburtsstadt, studierte Waldus Nestler bis 1911 in Erlangen, Kiel, Marburg, Zürich und Leipzig Theologie. Während seiner Studienzeit verbrachte er das Sommersemester 1909 in Zürich, wo er Leonhard Ragaz (1868-1945) und Hermann Kutter (1863-1931), den bedeutendsten Wortführern des religiösen Sozialismus begegnete. Mit seinem Züricher Theologieprofessor Ragaz verband Waldus Nestler eine lebenslange Freundschaft zur Förderung der religiös-sozialen Bewegung. Nach Abschluss seiner theologischen Studien wurde Waldus Nestler Sekretär des Christlichen Vereins junger Männer in Plauen im Vogtland, wo er sein Vikariat absolvierte.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die selbst als Divisions-Gasschutzoffizier erlebten Schrecken der Kriegsrealität stellten Waldus Nestler als verantwortungsbewussten Christen vor die Frage, was angesichts dieses Völkerstreites mit seinem entsetzlichen Blutvergießen praktisch zu tun sei. In der Erkenntnis, dass ihm als Christ das Amt der Versöhnung übertragen ist, fand er zu jenen Frauen und Männern, die sich seit Ende 1914 in Cambridge (England) gegründeten Gemeinschaft für Versöhnung, dem Internationalen Versöhnungsbund, engagierten. Waldus Nestler zählte nach Ende des Ersten Weltkrieges zu den Mitbegründern der deutschen Abteilung dieses internationalen Bundes, dem Deutschen Versöhnungsbund.

1925 wurde der Leipziger Alfred Dedo Müller (1890-1972), einer der engsten Weggefährten Waldus Nestler, zum Vorsitzenden und Waldus Nestler zum Sekretär der deutschen Abteilung des Versöhnungsbundes gewählt. Neben der Anfertigung und dem Versand des Nachrichtenblattes wurde Waldus Nestler für den Vertrieb der Schriften für die Versöhnungsarbeit zuständig. Von 1924 bis 1926 besorgte er auch die Administration der von Ragaz in der Schweiz hg. Neuen Wege - Blätter für religiöse Arbeit in Zentraleuropa (Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, Finnland). Auf Vortragsreisen in Frankreich, Schweden, Dänemark, England und der Schweiz sowie zahlreichen deutschen Städten warb er für den Internationalen Versöhnungsbund und damit für Frieden und Verständigung.

Darüber hinaus pflegte er enge Kontakte zu den Friedensverbänden. So erhielt er u.a. 1932 durch die Deutsche Friedensgesellschaft & Bund der Kriegsgegner die Möglichkeit, seine friedenspädagogische Aufklärungsschrift Giftgas über Deutschland zu veröffentlichen. Mit diesem Bestseller zur Ächtung der chemischen Massenvernichtungsmittel erfüllte er zugleich eine Aufgabenstellung der Internationalen Tagung des Versöhnungsbundes vom August 1926 in Oberammergau, auf der von der Abrüstungskommission des Bundes ausdrücklich gefordert wurde: Der Versöhnungsbund möge sich bemühen, die Aufklärung über die wahre Gestalt des Gift- und Gaskrieges von morgen in die weitesten Kreise aller Länder zu Tragen.

Seine Versöhnungsvisionen suchte Waldus Nestler bereits unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch als praktischer Pädagoge zu verwirklichen; zumal ihm eine Bewerbung für den mit seinem Studium ursprünglich angestrebten Beruf eines Theologen durch seine schrecklichen Kriegserfahrungen unmöglich geworden war, weil die evangelische Kirche immer wieder offiziell eine positive Einstellung zu diesem Krieg demonstriert hatte, was bei Waldus Nestler zu einer tiefen inneren Abneigung gegenüber der Kirche führte. So bewarb er sich an der II. Höheren Mädchenschule mit Lehrerinnenseminar in Leipzig, die von dem international renommierten Reformpädagogen Hugo Gaudig (1860-1923) geleitet wurde. Mitte Oktober 1919 wurde er ständiger wissenschaftlicher Lehrer für Latein, Deutsch und Praktische Philosophie im Rahmen des Religionsunterrichts der später (1927) nach Gaudig benannten Schule.

Selbst unmittelbar nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten war Waldus Nestler in mutiger Weise durch Veröffentlichungen und Vorträge friedenspädagogisch aktiv. Er stellte sich mit diesen Aktivitäten in die Reihe derer, die sich Anfang der 1930er Jahre unermüdlich dem damals brennendsten Thema, der Schicksalsfrage der Menschheit und ihrer Kultur, in sachkundiger Weise zuwandten und die von den Kriegstreibern verbreiteten Thesen, dass der Gaskrieg eine saubere und humanitäre Kriegsform sei und es wirkungsvolle Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung gebe, zu widerlegen suchten. Dem organisierten Pazifismus ist es jedoch nicht gelungen, die pazifistische Disposition der Massen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in ein konkret pazifistisches Wollen umzusetzen, er konnte zudem den nationalistischen Verbänden nicht annähernd Paroli bieten. Im April 1933 wurde Waldus Nestler zunächst fristlos beurlaubt und im Oktober desselben Jahres an das Leipziger Friedrich-List-Realgymnasium zwangsversetzt.

Da er während des Nationalsozialismus keiner politischen Organisation beigetreten war und die menschlichen und geistigen Fähigkeiten zur Führung einer Schule besaß, wurde er noch unter amerikanischer Oberhoheit im August 1945 zu seiner Rehabilitierung zum Leiter der Gaudigschule berufen und zum Oberstudiendirektor ernannt.

Der weitere Entwicklungsweg Waldus Nestler steht im engen Zusammenhang mit dem Schicksal der Leipziger Gaudigschule. Einer anfänglichen Renaissance reformpädagogischen Gedankengutes im Osten Deutschland folgte alsbald (1948) eine rigide und administrative Ausgrenzung.

Am Ende seines langen Berufslebens, das der zeitgemäßen Verwirklichung reformpädagogischer Bestrebungen im Allgemeinen sowie der Rezeption der Reformpädagogik Hugo Gaudigs im Besonderen und nicht zuletzt seiner leidenschaftlich gelebten Friedenspädagogik galt, sah sich Waldus Nestler als Verfechter einer „reaktionären Pädagogik“ diffamiert und ausgegrenzt. Er musste zudem erleben, wie seine angestammte Gaudigschule im August 1951 auf dem Wege der Zwangsauflösung zerschlagen wurde.

Das Schicksal Waldus Nestler steht somit exemplarisch für eine sich schnell durchsetzende Ausgrenzung einer für viele Ideen offene Pädagogik in der Sowjetischen Besatzungszone und für eine sich im Rahmen der Diktaturdurchsetzung verschärfende Abwehr des Pazifismus.



Quellen

Stadtarchiv Leipzig, Stadtverordnetenversammlung, Rat der Stadt, Schulratsbestand, Kap. VI, Nr. 60, 809, 9990/9991, 10196-10199, 19251/10252.

 

Werke

  • Die große Schuld, in: Neue Wege - Blätter für religiöse Arbeit, 22(1928)7/8,             S. 358-366;
  • Ist die Zivilbevölkerung zu schützen gegen Luftangriff?, in: Die Eiche - Vieteljahresschrift für soziale und internationale Arbeitsgemeinschaft 17(1929)3,     S. 284-297;
  • Giftgas über Deutschland, Berlin 1932; Gas- und Luftkrieg, in: Leipziger Lehrerzeitung 40(1933)Nr. 4, S. 105-108.
  • Literatur
  • A. Pehnke, Für Frieden, Völkerverständigung und Reformpädagogik - Waldus Nestler: In Diktaturen gemaßregelt - in Demokratien vergessen und wiederentdeckt, in Paedagogica Historica 34(1998)3, S. 795-818;
  • A. Pehnke, Sächsische Reformpädagogik, Traditionen und Perspektiven, Leipzig 1998;
  • A. Pehnke, Botschaft der Versöhnung, Der Leipziger Friedens- und Reformpädagoge Waldus Nestler, Beucha 2004.