Aufsatz von Andreas Pehnke
 

Fritz Müller, der entschiedenste Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge

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Müller
, Fritz, * 16.5.1887 Hohenstein, † 7.7.1968 Karl-Marx-Stadt

Vater: Julius Eduard Adolf Rudolf Müller, * 14.4.1863 Kempen; Provinz Posen,
           Kreis Schildberg, Uhrmachermeister

Mutter: Louise Auguste Müller, geb. Aurich, * 29.8.1863 Grüna bei Chemnitz

1907 absolvierte Müller das Lehrerseminar in Annaberg. Erste pädagogische Praxiserfahrungen sammelte er sodann in Glauchau, bis er 1910 in den Chemnitzer Schuldienst trat. Seit Beginn seiner Lehrertätigkeit verfolgte er die reformpädagogischen Diskussionen mit großem Interesse und hatte beispielsweise zahlreiche Landerziehungsheime hospitierend kennen gelernt. Infolge schulbürokratischer Lehrerversetzungspraktiken gelangte Müller 1923 zufällig an die Chemnitzer Humboldtversuchsschule, die sich von 1921 bis 1933 und wiederum von 1948 bis 1951/52 zu einer sächsischen Reformpädagogik-Hochburg entwickeln sollte und überregional - so auf der Weltbundtagung der New Education Fellowship 1927 in Locarno - Aufmerksamkeit erlangte. Müller prägte das spezifische reformpädagogische Profil dieser zwei Versuchsschulgenerationen wie kein anderer.

Seit 1924 wollte er die Potenzen des jahrgangsübergreifenden und koedukativen Unterrichts für die Realisierung des Gemeinschaftsgedankens der Versuchsschule experimentell erproben. Dazu initiierte einen zunächst acht Jahrgänge übergreifenden Unterricht, der in den Folgejahren gar zehn Jahrgänge umfassen sollte und zusätzlich Möglichkeiten bot, sowohl Absolventen der Schule als auch interessierte Eltern punktuell in den Klassenverband, der sich Gruppe Müller nannte, zu integrieren.

Zu den zentralen Schülerpersönlichkeiten dieser einzigartigen Lerngruppe zählten u.a. die Janka-Brüder Otto (1910-1985), Walter (1914-1994) und Hans (1916-194? - im Zweiten Weltkrieg vermisst). Wegen der problematischen sozialen Situation der Schüler aus der Arbeiterschaft wurde der Hauptwert auf erzieherische Beeinflussung gelegt. Es galt, dem Kind seine natürliche Unbefangenheit und Heiterkeit, sein lebhaftes Interesse an den Dingen, seine Freude am ‚Begreifen', seine Fragelust, seine Phantasie und seinen Betätigungstrieb zu erhalten oder - soweit das alles verschüttet oder vernichtet war - wiederzugeben, weiterhin aber auch das natürliche Wachstum zu gewährleisten, d.h. die natürliche Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit zu erhöhen und damit das Selbstvertrauen als die beste Grundlage einer gesunden Entwicklung zu stärken.

Die neuartige schuldemokratische Struktur der Gruppe Müller sah folgendermaßen aus: Nach eigener Wahl der Kinder gliedert sich die Gruppe in fünf Tischgemeinschaften mit je einem Führer. Die Gruppe wählte sowohl einen Vorstand als auch einen Ausschuss. Die obere Instanz in allen wichtigen Entscheidungen und strittigen Fragen war die Klassenversammlung, die von der gesamten Klasse und dem Klassenlehrer gebildet wurde. Sie beriet über alle gemeinsamen Angelegenheiten: Stundenplan, Stoffauswahl, Stoffreihenfolge, Feste und ihre Ausgestaltung; sie sprach sich aus über alles gemeinsam Erlebte: Wanderungen, Vorträge, Vorführungen, Feste. Außerdem gab es noch Helfergruppen: Ältere waren zur Arbeit mit den Jüngeren verpflichtet und hatten regelmäßig dem Lehrer zu berichten.

Damit verband Müller das Ziel, dass sich jedes Kind um ein erträgliches, von gegenseitigem Verständnis und Rücksicht getragenes Leben in der Gruppe bemühen sollte.

Störungen wurden möglichst im kleinen Kreise beseitigt. Wurde das mit dem Helfersystem oder in der Tisch- bzw. Arbeitsgemeinschaft nicht erreicht, so kamen als Schlichtungsinstanzen der Reihe nach in Betracht: der Klassenausschuss, der Klassenvorstand, der Klassenlehrer und die Klassenversammlung. Um die vielgestaltige Verwaltung zu bewältigen, wurden den größeren Schülern entsprechende Klassenämter übertragen. Auf diese Weise könne sich, so Müller, eine andere Qualität im Lehrer-Schüler-Verhältnis entwickeln: Auf dem Wege von der mehr spielerischen Beschäftigung des jüngeren Kindes wird der Lehrer als ‚Belehrer und Unterrichter' immer mehr überflüssig.

Aus dem mehr passiven Kind der veralteten Lernschule wird so das ‚schaffende Kind', dem der Lehrer immer mehr zum Berater, Mitforscher, Freund und Kamerad wird, der Wege weist, Anregungen gibt, Fehler erkennen und vermeiden hilft. Ausgehend von der Tatsache, dass im gesunden Kinde eine Vielzahl bildender Kräfte ruhen, die der freien Entfaltung bedürfen, hatte Müller versucht, dem Kinde seine natürliche Selbsttätigkeit zu erhalten, es zur Selbstständigkeit und mit zunehmendem Alter immer mehr zu ernster, gewissenhafter Arbeit zu befähigen.

Diese größere Aktivität des Kindes wirke sich in der Gestaltung des Unterrichts stark aus. Kindliches Interesse und kindliche Begabung wurden berücksichtigt bei der Stoffauswahl, Stoffanordnung und Stoffbehandlung. Beim einzelnen Stoffgebiet kam es nicht auf Vollständigkeit und äußerliche Stoffaneignung an (mathematische Formeln, geschichtlich-geographische Kenntnisse), sondern auf Vertiefung und innere Erfassung, auf Ausbildung und Übung der kindlichen Denk- und Gestaltungskräfte durch möglichst selbstständige Arbeit. Dabei zeigte sich offensichtlich, dass sich das ‚schaffende Kind' durch eigene Kräfte mehr bildet, als durch den ‚unterrichtenden Lehrer' gebildet werden kann.

Müller konnte in seiner Dokumentation zur Versuchsarbeit der Gruppe Müller konstatieren, dass die Klasse neben einer Lebens- eine Bildungsgemeinschaft wurde: Nicht auf die Menge des Wissens kam es an, sondern darauf, die Sinne der Lernenden zu üben und zu schärfen, die in ihnen liegenden geistigen Kräfte zu wecken und zu fördern. Sie sollten lernen, selbstständig an eine Aufgabe heranzugehen und sie auf eigene Faust zu lösen. Es galt, die von den Lehrern gewährte große Freiheit richtig zu nutzen, sie aber auch selbst zu begrenzen, dass alle miteinander in der Schule zusammenleben konnten.

Die von diesem Schulversuch erhalten gebliebenen Dokumente (Jahresberichte, Schüler-Projektarbeiten, Exkursionsberichte, Klassenbücher, Aufsätze, Schülerbriefe) im Umfang von ca. 3.500 Seiten illustrieren als ermutigende Zeugnisse couragierten Lehrens und Lernens eine Lernatmosphäre, die heute als kultiviertes Lernumfeld beschrieben und einfordert wird.

Müller reformpädagogischen Aktivitäten erstreckten sich von Anfang an auch auf folgende sozialpädagogische Handlungsfelder: Mitarbeit im Ausschuss für Jugendpflege und -fürsorge im Chemnitzer Lehrerverein, Mitglied des Landesausschusses für Jugendwohlfahrt, ehrenamtliche Tätigkeit im Gemeindewaisenrat, Betreuer in der Strafentlassenen-Fürsorge, vereidigter Sachverständiger für Kinderaussagen beim Amts- und beim Landgericht und schließlich von 1912 bis 1934 Leiter von Jugendgruppen wie der Gruppe Eros oder einer Jugend- und Wandergruppe des Guttemplerordens.

1933 wurde Müller von den Nazis aus dem Schuldienst entfernt. Im Sommer 1942 konnte er durch das Chemnitzer Arbeitsamt zunächst als Bürohilfe bei einem Steuerberater und Bücherrevisor, sodann als Aushilfskraft in der Buchhandlung einer Papiergroßhandlung und schließlich bis Kriegsende als Buchhalter der Gothaer Lebensversicherung vermittelt werden. Im Umfeld des gescheiterten Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 beteiligte sich Müller - von der Gestapo unaufgeklärt - an der Beherbergung Carl Friedrich Goerdelers (1884-1945), der sich auf der Flucht befand.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Müller sogleich zum Schulleiter berufen. So leitete er zunächst die Ludwig-Richter-Schulen, seit April 1945 die Otto-Rötzscher-Schule. Gleichzeitig engagierte er sich in der Neulehrerausbildung und koordinierte seit September 1946 die einzigartige Wiedereröffnung der Humboldtversuchsschule mit Tagesheim und Kindergarten.

Jedoch bedeutete die nach nur kurzer Renaissance reformpädagogischen Gedankengutes im Osten Deutschlands staatlich verordnete Abkehr von der Reformpädagogik seit 1948 zugunsten stalinistisch eingefärbter didaktischer Prinzipien nach sowjetischem Vorbild, dass er selbst nicht an der 1948 wiederbegonnenen, aber nun nur noch mit zahlreichen Kompromissen gegenüber der ostdeutschen Bildungsbürokratie lediglich halbherzigen Versuchsschularbeit mitarbeiten durfte. Weil er sich im Zuge der Diktaturdurchsetzung in der Sowjetischen Besatzungszone nicht vereinnahmen ließ, wurde er wieder aus dem Schuldienst entfernt.

Sodann engagierte er sich 1948/49 als Sozialpädagoge für elternlose Kinder- und Jugendliche in sächsischen Kinderheimen, bevor er bis zum Eintritt in den Altersruhestand eine Betreuungstätigkeit für behinderte Jugendliche an der Chemnitzer Handwerkerschule ausführte.



Quellen

    Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen Ministerium für Volksbildung, Abt. Schulwesen, PA: Fritz Müller; Stadtarchiv Chemnitz, Schulratsbestand, Bezirksschulrat I, Chemnitzer Versuchsschulen, B II 17/4; B III 4/1; B IV 10/27; B V 1/3 sowie Rat der Stadt Chemnitz 1945-90, Volksbildungsamt, Nr. 1247, 1251, 1261, 3155, 3720, 3726, 3743, 4154, 4467, 5440/5441, 6068, 7668, 7931, 9483 und schließlich der Fritz-Müller-Nachlass.
Literatur

    A. Pehnke, „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“, Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz Müller, Beucha 22002;
    A. Pehnke (Hg.), Reformpädagogik aus Schülersicht, Dokumente eines spektakulären Chemnitzer Schulversuchs der Weimarer Republik, Baltmannsweiler 2002,
    A. Pehnke, Historische Erfahrungswerte zum erfolgreichen Umgang mit Heterogenität, in: journal für schulentwicklung 7(2003)4, S. 19-27.
Private Dokumente

    Historische Dokumente zur sächsischen Reformpädagogik. Sammlung im Besitz von A. Pehnke.