Narzissmus und Selbstinszenierung in Social Media


-Zeit für einen Perspektivwechsel der Nutzung?!




vorgelegt von
Elvira Tschense


Erstkorrektor: Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gerd-Bodo von Carlsburg

Zweitkorrektor: Dr. phil. M.A. AOR Helmut Wehr


Heidelberg, den 21.12.2016





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Inhalt

Einleitung
1. Medien im Wandel
1.1 Digitalisierung/Mediatisierung
Virtuell und real: ein Gegensatz?
1.2 Web.2.0
1.2.1 Social Media
1.2.2 Social Network Sites (SNS) und Online Communities
1.2.3 Exemplarische Kommunikationsinstanzen aus der Lebenswelt Jugendlicher:
     Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat
1.2.4 Exkurs: Lurking - unterschiedliche Partizipationsgrade in virtuellen Gemeinschaften
1.3 Digital Natives vs. Digital Immigrants?!
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2. Sozialisation 2.0
2.1 Kulturraum 2.0
2.2 Identität und Soziale Netzwerke
2.2.1 postmoderne Bedingungen
2.2.2 Heiner Keupps Identitätsmodell
2.2.3 Kohärenz
2.2.4 Identität durch Narration
2.2.5 Ein symbolisch-interaktionistischer Zugang zu personaler Identität (George Herbert Mead)
Zwischenfazit
3. Selbstdarstellung in Social Media
3.1 Identitätskonzept Goffmann- Warum stellen wir uns selber dar?
3.2 Selbstdarstellung in Social Media durch Selfies
Selfies
3.3 Selbstinszenierung
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4. Narzissmus im Cyperspace?!
4.1 Der Narzissmusbegriff
4.2 Selbstdarstellung versus Narzissmus
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5. Perspektivwechsel: Identitätsarbeit und Selfies
5.1 Bedeutung der Medien für die Persönlichkeitsentwicklung
5.2 Medien als essentieller Teil der Bildung
5.3 Der Medienbegriff
5.4 Partizipation und Engagement im Netz
5.5 Herausforderungen für die Medienbildung
6. Beschreibung und Auswertung des Fragebogens zum Thema Social Media
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Fußnoten


Einleitung


Der große bekannte, amerikanische Denker und Literat Robert Anton Wilson unterscheidet zwischen "neophoben" und "neophilen" Menschen. Die neophoben Menschen werden durch das Neue und Unbekannte immer wieder in Angst versetzt, während die neophilen Menschen dem Neuen und Unbekannten jeder Zeit mit Neugier und Lust gegenüber treten. (vgl. ebd., zitiert nach Urchs/Cole 2013, S. 27) Unabhängig davon, ob wir die Veränderungen unserer Welt in den letzten Jahrzehnten positiv oder negativ bewerten, durchleben wir alle zusammen eine radikale Veränderung durch die Phänomene der Digitalisierung und Vernetzung.

Digitalisierung und Vernetzung bestimmen unser ganzes Leben. Die Art, wie wir leben, arbeiten, einkaufen und unsere Freizeit gestalten, ja, insbesondere die Art, wie wir kommunizieren hat sich grundlegend verändert. Diese fundamentalen Veränderungen schließen kaum noch einen Lebensbereich aus und es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, sich diesen Veränderungen zu entziehen. Die digitale und die reale Welt durchdringen sich immer mehr und beide verändern sich mit einer rasanten Geschwindigkeit. Unser gesellschaftliches und unser persönliches Leben ist ebenfalls von den Veränderungen der Digitalisierung und Vernetzung betroffen, sodass eine Rückentwicklung dieser Phänomene undenkbar ist: "Wenn technische und wirtschaftliche Entwicklungen erst einmal das gesellschaftliche wie das persönliche Leben tiefgreifend verändert haben, dann lassen sie sich kaum noch ungeschehen machen." (Urchs/ Cole 2013, S. 28) Das Rad der Geschichte lässt sich nun einmal nicht zurückdrehen. Wir leben in einem digitalen Zeitalter. Durch das zeitgenössische Phänomen der Digitalisierung ergeben sich viele Chancen in unserer Lebensführung.

In dieser Arbeit soll besonders auf die Möglichkeiten der Vernetzung und der Kommunikation über Social Media eingegangen werden, denn: " Der Mensch ist ein Tier, das dank seiner originären Entwicklung in ein Netzwerk sozialer Beziehungen erst die Kompetenzen entwickelt, die ihn zur Person machen." (Habermas, Jürgen S.17, zitiert nach Theunert 2006, S. 7) Diese Vernetzung nimmt mit der Weiterentwicklung des Internets zum Web 2.0 ganz neue Dimensionen an. Doch warum gibt es noch immer so viele Gegner und Kritiker des Social Webs?

"Ego am Stiel"[1], "Selfies entlarven Narzissten"[2], "Generation Selfie: wir sind eigentlich krank"[3] und "Hassobjekt-Selfie Stick"[4] diese und weitere Onlineartikel rücken die Selbstdarstellung in Social Media in ein sehr negatives Licht. Artikel in dieser Art verweisen häufig auf Studien (z.B. die Selfie- Studie der Ohio State University), die Zusammenhänge von Narzissmus und psychischen Problemen mit dem Posten von Selfies belegen sollen. (vgl. Jiménez 2016) Haben wir uns zu einer Generation aus Narzissten und Egoisten entwickelt?

"Wir leben im Zeitalter des Selfies". (Saltz 2015, S. 32) Junge Menschen stellen sich selbst in Sozial Media dar. Diese Fotopraxis ist zu einer alltäglichen Gewohnheit geworden. Selbstinszenierung in Sozial Media ist im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs sehr umstritten. Die wohl häufigste Art der Selbstdarstellung im Netz ist das Posten von Bildern. Bei diesen Bildern handelt es sich weitestgehend um Fotos, die Menschen von sich selbst schießen, indem sie die Frontkamera des eigenen Smartphones auf ihr Gesicht richten. Millionen neue Selfies erscheinen täglich auf Social Network Sites und sind aus dem Alltag des Konsumierens und Produzierens von Bildern nicht mehr wegzudenken. (vgl. Bering/Niehoff 2013) Fast jede Gelegenheit wird genutzt, um ein Selfie zu machen. Die Orte unseres Alltags halten wir auf Selfies fest, sei es im Fitnessstudio, auf dem Schulhof, im Urlaub oder einfach zu Hause im Badezimmer.

Die wohl gängigste Kritik an Selfies ist der dahinter vermutete Narzissmus. Selfies werden in der Éffentlichkeit häufig negativ bewertet, da ihnen eine Verstärkung von narzisstischem Verhalten oder gar der Verlust von sozialen Fähigkeiten Jugendlicher unterstellt wird. Das Phänomen Selfie wird in jüngster Zeit von PsychologInnen, MedienwissenschaftlerInnen, PhilosophInnen und KunsthistorikerInnen erforscht und es entstehen neue Blickwinkel auf diese beliebte und sehr populäre Fotopraxis. Die Forschungen rund um das Phänomen Selfie liegen jedoch noch in den Anfängen. Warum werden Selfies überhaupt gemacht und welche Bedeutungen haben diese Selbstporträts für die Kunst, die Kultur und für das gesellschaftliche Leben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich zurzeit die Fachliteratur.

Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Zusammenhang der Selbstdarstellung in Social Media und der Identitätsbildung junger Erwachsener und bearbeitet die Leitfrage:

Welchen Beitrag leisten Social Media zur Identitätskonstruktion Jugendlicher in der postmodernen Gesellschaft?

Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Medienwandel. Zeitgenössische Phänomene wie Digitalisierung und Mediatisierung werden hier dargestellt. Der vermeintliche Unterschied zwischen virtuell und real wird zu Beginn diskutiert, bevor die Weiterentwicklung des Internets zum Web 2.0 beschrieben wird. Zur Rüstung der weiteren Fragestellungen werden zunächst die Begriffe Social Media, Online Communities und Social Network Sites (SNS) erklärt.

Der zweite Teil der Arbeit setzt sich mit dem Internet als Sozialisationsinstanz auseinander. Unter anderem werden hier die Identitätsmodelle von Heiner Kneupp und von George Herbert Mead herangezogen. Das Phänomen der Selbstdarstellung wird mit Ansätzen der postmodernen Identitätskonstruktion in Verbindung gebracht.

Die Selbstdarstellung in Social Media wird im dritten Teil der Arbeit auf Grundlage des Identitätskonzepts von Goffmann analysiert. Auf das Phänomen der Selbstinszenierung und die Fotopraxis Selfie wird hier vertieft eingegangen.

Der Fokus des folgenden vierten Teils liegt auf der Abgrenzung des Narzissmusbegriffs zur Selbstdarstellung. Hierzu wird der Narzissmusbegriff zunächst ausführlich erläutert und das Phänomen der Selbstdarstellung, insbesondere über Selfies wird neu bewertet. Diese Neubewertung veranlasst im anschließenden fünften Kapitel einen Perspektivwechsel, welcher mit einer positiven Identitätsarbeit durch Selbstdarstellung (Selfies) begründet wird. Zum Abschluss wird im letzten Kapitel noch eine, im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte, Fragebogenstudie vorgestellt und ausgewertet

Zwischenfazit
Es lässt sich festhalten, dass die Variable Geburtsjahr eine unterschiedliche Mediennutzung nicht ausreichend erklären kann. Nicht abzustreiten ist dagegen die mögliche Korrespondenz zwischen Geburtsjahr und Einstellungen. Jedoch impliziert die Tatsache, dass es mehr als nur zwei erklärende Variablen für das Mediennutzungsverhalten gibt, auch eine Unterscheidung in mehr als nur zwei verschiedenen Mediennutzungstypen. Da wir alle unabhängig unseres Geburtsjahres in der gleichen digitalen Welt leben und unsere Adaption der Nutzung nicht vom Geburtsjahr abhängig ist, sondern eher durch den sozialen Status, das persönliche Interesse und die Einstellung beeinflusst wird, ist die Einteilung in "Digital Natives" und "Digital Immigrants" unzureichend. Diese Argumentation soll auch die Vorstellung entkräften, dass die Jugendlichen in der heutigen Zeit eine radikale Umwälzung durchlaufen haben und alle zu sogenannten "Net Kids" heranwachsen:

    "Die Medien sind Teil des Alltags, sie werden als gegeben hingenommen und ganz selbstverständlich genutzt und in die ganz normalen Sozialisationsprozesse einbezogen. Das bedeutet nach meinem Verständnis gerade nicht, dass die Medien die Einstellungen der Jugendlichen «prägen`, Nerds oder Net Kids aus ihnen machen" (Schulmeister 2009, S. 80)

Innovationen, wie das Social Web formen das Verhalten nicht, höchstens wird ein Rahmen für Verhalten gestellt oder das Verhalten wird strukturiert und mit geformt. (vgl. ebd.)

Das Web 2.0 als eine Mitmachplattform verändert die UserInnen nicht, die UserInnen gestalten die Netzwerke. Natürlich lenkt die Plattform durch die gebotenen Funktionen das Verhalten der UserInnen, aber was letztlich im Netz erscheint, welche Bilder gepostet und welche Inhalte kommuniziert werden, wird von den UserInnen persönlich bestimmt. Dadurch sind die Inhalte und die Kommunikationen analog, real und authentisch.

Zwischenfazit

Zur Verdeutlichung der essentiellen Bedeutung der signifikanten und der generalisierten Anderen wurde hier die Darstellung Meads in Bezug auf Identität erläutert. Meads Ansatz lässt sich auf das Phänomen der Selbstdarstellung in Social Media übertragen. Wir inszenieren uns selbst durch Beiträge in Social Network Sites und erhalten Resonanz von anderen UserInnen. Diese Resonanz beeinflusst unsere weiteren Beiträge. Wir sind uns schon vor dem Posten darüber im Klaren, was wohl unsere Zielgruppe über den Beitrag denken wird. Wir initiieren ein erwünschtes Feedback, in dem wir solche Beiträge posten, die unserer Erfahrung nach die gewünschte Resonanz hervorbringen wird.

Social Media basieren auf Kommunikation, die User sind nicht passiv, sondern interagieren und kommunizieren. Diese Interaktionen der User untereinander über Bilder und Texte beeinflussen die Art der Selbstdarstellung der User in Social Media.

Schon in dem Moment, in dem wir ein Selfie schießen, haben wir einen bestimmten Adressanten, eine bestimmte Community im Hinterkopf, die dieses Foto sehen und bewerten wird. Wir sehen uns aus dem Blick der Anderen und so wird unser Verhalten in Social Media durch vorhersehbare Resonanz der Anderen beeinflusst. Identität nach Mead ist immer wieder in weiteren Interaktionen neu aushandelbar. Die Bedingungen der Social Media passen gut zu dieser ständigen Modifikation der Identität.


Zwischenfazit

Wir leben in einer globalisierten, fluiden Welt, unser Alltag wird immer schneller und ist geprägt von dem Vorhandensein sehr vieler verschiedener Lebensorte. Möglicherweise liegt der Reiz an einem Selfie daran, sich selbst zu dokumentieren und einen Ort oder ein Erlebnis festzuhalten. Wir zeigen mit einem Selfie uns selbst und anderen, dass wir noch da sind. Wir stellen uns selbst auf Social Network Sites dar, jedoch nicht nur aus purer Eitelkeit, sondern auch um unsere Identität zu konstruieren, zu modifizieren und immer wieder neu zusammenzustellen. Welches Selfie wir letztlich auf eine SNS veröffentlichen, ist abhängig davon, welches Bild wir selbst von uns als schön und vorteilhaft bewerten.

    "Da die vorteilhafte Präsentation sich an den hegemonialen Wahrnehmungs- und Darstellungskriterien einer Kultur orientiert und ihre Vorbilder dem kulturellen Bilderrepertoire des Screen entnimmt, wird eine in dieser Kultur sozialisierte Person vor allem Bilder von sich als schön und schmeichelhaft empfinden, die diesen Kriterien weitestgehend entsprechen" (Balsam 2010, S.76)

Zusammenfassend lässt sich Identität definieren als die Fähigkeit, "dass jemand Ich sagen kann." (Schorb 2004, S. 81) Die momentane gesellschaftliche Situation zeichnet sich durch Prozesse der Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung aus, was mit dem Verlust traditioneller Identitätsmodelle einhergeht. (vgl. Röll 2014) Eine Kontrolle über die langfristige Lebens- und Berufsplanung ist nicht mehr garantiert und die Kurzfristigkeit steigt an, diese Phänomene implizieren die Notwendigkeit einer eigenen Konstruktion der individuellen Identität. Die stabilen Orientierungsangebote sind heute sehr limitiert: " Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert werden." (Keupp 2000, S. 117) Subjekte sind Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne (vgl. Goffmann 1997) Identität muss also als eine kreative Eigenleistung des Individuums verstanden werden. Diese Eigenleistung impliziert Freiheiten, aber auch eine neue Unsicherheit.(vgl. Schorb 2009, S. 85) In der Postmoderne hat die Identitätsfindung sich zu einer individuellen Herausforderung entwickelt.(vgl. Tillmann 2014) Die Notwendigkeit einer flexiblen Persönlichkeit, die schnell auf flexiblen Kapitalismus reagiert und neue Innovationen adaptiert, resultiert aus den aktuellen gesellschaftlichen Strukturen (vgl. Sennett 1998) Eine flexible Persönlichkeitsentwicklung resultiert aus den postmodernen Bedingungen. "Identität ist nach diesem Verständnis vergleichbar mit einem Projekt, das sich mithilfe von Selbstreflexion ständig verändert. Dadurch rückt die Selbsterzählung in den Mittelpunkt" (Röll 2010, S. 216)

Schorb (2009) sieht in den Medien für Jugendliche in der heutigen Gesellschaft eine Chance. Medien sind "Material für ihre Identitätsarbeit" (vgl. ebd., S. 81)

Medien bieten eine Plattform für Identifikation und Übernahme von vorgelebten Identitätsmustern einerseits und ermöglichen andererseits die eigene, entwicklungsrelevante Produktion von Inhalten, welche auf soziale Anerkennung überprüft werden können. (vgl. Witzke 2004)


Zwischenfazit

Die synonyme Verwendung des Begriffs Narzissmus für eine Persönlichkeitsstörung in einem Kontext und für ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein ist nicht gerechtfertigt: "Während ein gesundes Selbstbewusstsein allerdings oftmals gerade auf Soliden Beziehungen zu anderen Menschen basiert, stellt sich der Narzisst sogar neben jene Personen, deren Zuneigung er wünscht, auf einen Podest." (Mara 2013, S.62) Narzissten fühlen sich nur sehr selten einer anderen Person wirklich nahe. Fehlende partnerschaftliche Beziehungen führen dazu, dass narzisstische Menschen psychisch eher labil sind. Die Frustrationstoleranz bei Narzissten ist sehr gering, sie sind anfällig für Depressionen und geraten leicht in Angstzustände. (vgl. Twenge 2006, S.68)

Das Verhalten der UserInnen des Social Web ist nicht unter diesen negativ besetzen Begriff zu fassen. Wir alle inszenieren uns, auch unabhängig von Social Media und den neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Noch lange sind wir nicht persönlichkeitsgestört, weil wir gerne unsere positivsten Seiten zur Schau stellen. Durch die vielfältigen Funktionen der Social Network Sites können die UserInnen von einem hohen Potenzial für ein gelungenes Impressions-Management profitieren. Natürlich präsentieren wir uns nicht in allen Facetten unseres Alltags. Wir zeigen immer nur Facetten von uns, wir zeigen das, was wir vermitteln wollen.

Aus diesen Gründen handelt es nach Misoch (2004) auch immer nur um konstruierte Selbstbilder bei Nutzerprofilen in Web- Communities. (vgl. ebd. S.130f, zitiert nach Mara 2013, S. 75) Ist also unsere gesamte Darstellung im Internet nur eine erlogene Konstruktion? Immerhin handelt es sich ja um echte Personen, die ihre Fotos, ihre echten Erlebnisse und Gedanken teilen. Die Kommunikationen im Social Web sind echt und es werden echte Kontakte geknüpft und gepflegt. Auch offline zeigen wir uns nicht immer im vollen Umfang, denn " wir alle spielen Theater." (Goffmann 1998)

Es ist nichts Verwerfliches daran, wenn wir unser Ego pushen lassen durch die positive Resonanz unserer Mitmenschen. Wenn Social Media als Spiegel unseres Selbst fungiert und uns Raum gibt, zu kreativen, selektiven Selbstdarstellung, dann hat das Web 2.0 unsere Gesellschaft bereichert.


7. Fazit

Die aktuelle gesellschaftliche Situation ist geprägt von der Globalisierung und der Enttraditionalisierung, sowie einer rasanten Beschleunigung der technischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen. Diese zeitgenössischen Phänomene stellen uns vor neue Herausforderungen. Die Idee des lebenslangen Lernens entwickelte sich bereits in den sechziger Jahren, aber eine enorme Geschwindigkeit in der technischen und kulturellen Entwicklung verleiht dem Ansatz des lebenslangen Lernens im digitalen Zeitalter eine ganz neue Dringlichkeit. (vgl. Röll 2009) SchülerInnen müssen bereits in der Schule auf zukünftige Veränderungen vorbereitet werden. Von Mitgliedern der Gesellschaft wird heute stetig eine Anpassung erwartet. Nach Röll (2009) bedarf es daher "zunehmend der Notwendigkeit Metakompetenzen zu entwickeln, die [...] die Ausgangsbedingung bilden, sich im späteren Leben eigenständig die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen anzueignen, die lebenslang gefordert werden." (vgl. ebd., S. 1) Neue Medien machen auch neue pädagogische Konzepte notwendig. Damit SchülerInnen lernen, selbstgesteuert zu lernen müssen die neuen Medien in die pädagogischen Kontexte mit eingebunden werden. " Da Kinder und Jugendliche in einer von Medien geprägten Welt aufwachsen, fällt es ihnen leichter Medien als Mittler von Lernprozessen zu nutzen."(Röll 2009, S. 1)

Lernprozesse verlaufen nicht immer positiv, viele Faktoren können das Lernen begünstigen, oder behindern. Siebert (1985) betont die Unerlässlichkeit, sich bei Lernprozessen an den Lebenswelten und den Bedürfnissen der Lernenden zu orientieren. (vgl. ebd., zitiert nach Röll 2009) In der Lebenswelt der Jugendlichen sind die neuen Medien omnipräsent. Social Media dominiert den Alltag der Jugendlichen. Das wir Menschen uns ständig immer wieder neu orientieren und neue Lernwege ausprobieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Gerne verharren wir auch beim Gewohnten und bei bekannten Konzepten. Robert Anton Wilson differenziert zwischen neophoben und neophilen Menschen. Wobei er den neophoben Menschen die Eigenschaft zuschreibt, sich von neuen und unbekannten Phänomenen verängstigen und verunsichern zu lassen. (vgl. Einleitung)

Röll beschreibt diese Unterschiedlichkeit im Wesen der Menschen mit einer unterschiedlich ausgeprägten Tendenz, sich neuen Denkwegen und Wahrnehmungsmöglichkeiten zu öffnen. Wir erwerben bereits im frühen Alter persönliche, individuelle Lernstile. Werden diese Lernstile jedoch nicht immer wieder neu einem Revisionsprozess unterzogen, dann bleiben unsere Lernstile stabil und münden im Senioritätsprinzip. In Bezug auf das Lernen und Lehren bedeutet das: Neue, unbekannte, unverständliche Lernstile werden abgelehnt, da sie nicht in das bekannte Weltbild integriert werden können. "Dies kann zur Verächtlichung, Abwertung und Diskriminierung des jeweils Neuen führen." (Röll 2009, S. 4) Ablehnung und Widerstand gegenüber neuen Phänomenen dienen demnach dem Erhalt des eigenen, bekannten Lernkonzepts. Das Senioritätsprinzip lässt sich jedoch nicht als eine Eigenschaft der älteren Generation deklarieren. Die Generation des digitalen Zeitalters wächst praktischer Weise bereits mit den neuen Medien auf und kommt somit nicht unmittelbar in das Dilemma ihre Lernkonzepte anzupassen.

"Ein weiteres Grundproblem [...] ist, dass unser Bildungssystem in der Regel Menschen, die etwas Neues lernen, als unqualifiziert ansieht."(Röll 2009, S.6) Diese negative Sichtweise impliziert eine Gefahr in der Identitätsarbeit, denn das neue Lernen kann das Identitätsgefühl des Lernenden in Frage stellen. Eine neue Denkweise ist also Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen im digitalen Zeitalter. "Lernen bedeutet nicht der Ausgleich eines Defizits, sondern eine erweiterte Qualifikation eines kompetenten Menschen" (ebd.) Lernen darf nicht mehr verstanden werden , als reines Auswendiglernen von Faktenwissen, sondern bedeutet vielmehr eine Aneignung neuer Denk- und Wahrnehmungsprozessen, sowie kreatives Denken und Flexibilität bei der Adaption neuer Lernstile.

Die schnelle Weiterentwicklung des Webs, zum Web 2.0 macht deutlich, dass wir auch in Zukunft mit neuen Entwicklungen und Phänomenen konfrontiert werden. Daher sollte der Appell an uns alle heißen, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, das Senioritätsprinzip zu verabschieden und mit Neugier und Optimismus neuen Denk- und Wahrnehmungsprozessen gegenüber zu treten. Wir müssen akzeptieren, dass sich unsere Gesellschaft und die Technik schnell verändern, und sollten die Chancen in diesen Entwicklungen erkennen und nutzen.

Durch Social Media verlieren wir nicht die sozialen Fähigkeiten, sondern erhalten die Möglichkeit, unsere sozialen Kontakte noch einfacher und unabhängig von Ort und Zeit zu pflegen. Die Leitfrage dieser Arbeit war, welchen Beitrag Social Media zur Identitätskonstruktion Jugendlicher in der postmodernen Gesellschaft leisten.

In Anbetracht postmoderner gesellschaftlicher Entwicklungen, in denen traditionelle Sozialisationskonzepte und Orientierungsangebote entfallen, bilden Social Media neue Vermittlungsinstanzen, denen Jugendliche Identitätsmuster entnehmen können. (vgl. Tillmann 2008) Der mediale Zusatzraum darf nicht als virtuelle Gegenwelt gesehen werden, vielmehr erweitert und durchdringt dieser zusätzliche Raum die alltägliche Lebenswelt Jugendlicher. (vgl. ebd.) In Kapitel 2 wurde die postmoderne Identitätskonstruktion dargestellt. Jugendliche können nicht mehr auf vorgefertigte Identitätsmodelle zurückreifen und sind folglich auf ihre kreative Eigenleistung angewiesen. Social Media repräsentieren einen vielschichtigen und pluralisierten Identitätsmarkt, der sich auf den Beiträgen der UserInnen manifestiert. Durch die Produktion eigener Bilder und Selfies können Jugendliche auf die neuen Herausforderungen der Identitätskonstruktion antworten. Das Selfie ist demnach eine Methode, den Verlust tradierter Identitätsmuster auszugeichen und sich den gesellschaftlichen Anforderungen von Flexibilisierung, Individualisierung und Pluralisierung zu stellen. (vgl. Tillmann 2008). Genau wie auch die Identität ist das Selfie nicht auf Dauerhaftigkeit ausgelegt. Ein Selfie ist eine Echtzeitaufnahme, die auf Social Network Sites nur für einen bestimmten Zeitraum zu sehen ist. So ist auch die Identitätskonstruktion der Jugendlichen heute auf Flexibilisierung und Fragmentierung ausgelegt: Jugendliche sind ständig gefordert, sich neu zu definieren und auf gesellschaftliche Anforderungen zu reagieren. Das Selfie kann Jugendlichen bei der Aushandlung ihrer Identität in der Postmoderne unterstützen. Ein Subjekt will durch das Selfie wahrgenommen und gesehen werden. In einer schnelllebigen, globalisierten Welt ist das Bedürfnis, sich selbst sichtbar zu machen, noch stärker geworden. Wir dokumentieren unsere Biografie mit Selfies, wir erstellen einen Bezugspunkt, zu dem wir immer wieder zurückkehren können. (vgl. Balsam 2010) Die neue Generation der Jugendlichen macht aus dem Selfie eine Fotopraxis, die global praktiziert wird, und als neue Weltsprache fungiert. (vgl. Ullrich 2015) Der Risikothese, dass Selfies die Jugendlichen zu Narzissten und Egoisten werden lassen, konnten in dieser Arbeit die Potenziale dieser Fotopraxis und der Selbstinszenierung in Social Media entgegengebracht werden. Selfies können verstanden werden, als eine Strategie, mit widersprüchlichen und ambivalenten postmodernen Bedingungen, kreativ und eigenständig umzugehen. Wenn wir Selfies als Gefahr ansehen, dann negieren und berauben wir den Lebensraum der Jugendlichen, denn das Selfie stellt eine jugendspezifische Ausdrucksform der Lebensbewältigung dar.

In der Bearbeitung postmoderner Identitätsmodelle wurde aufgezeigt, dass eine kohärente Selbstnarration eine Bedingung darstellt, um Teilidentitäten zu einem Selbst zu generieren. (vgl. Keupp 2001). Das Selfie ist eine Mikrogeneration, welche den Jugendlichen die Möglichkeit einer erzählerischen Selbstdarstellung ermöglicht. Jugendliche erhalten auf Social Network Sites sehr schnell Resonanz zu ihren Teilidentitäten. Die schnelle und flexible soziale Interaktion in Social Media führt zu einer erneuten Bearbeitung und Aushandlung der entsprechenden Teilidentitäten.

Selbstdarstellung und Eigeninszenierung findet im Sinne des symbolischen Interaktionismus (vgl. Kapitel 3) in alltäglichen Situationen statt. Der Alltag der Jugendlichen ist geprägt durch neue Formen des Internets. Die Weiterentwicklung des Internets zu einer Mitmachplattform (vgl. Kapitel 1) bringt neuen Raum für Engagement, Partizipation, sowie Identitätskonstruktion mit sich. Das Phänomen der Selbstinszenierung ist nicht etwa etwas Neues, was sich mit dem Aufkommen des Social Webs etabliert hat. Das Bedürfnis zur Selbstdarstellung ist etwas Grundlegendes. Im schulischen Kontext sollte diese Selbstdarstellung und die damit einhergehende Identitätskonstruktion unterstützt werden. Hierzu sollte die mediale Welt der Jugendlichen zunächst akzeptiert und positiver bewertet werden. Gemeinsam mit den Jugendlichen können dann die Chancen der Social Media genutzt werden.

"Wenn ein einzelner vor anderen erscheint, stellt er bewußt oder unbewußt eine Situation dar, und eine Konzeption seiner selbst ist wichtiger Bestandteil dieser Darstellung." (Goffmann 1998, S.285) Inszenierungs- und Selbstdarstellungsprozesse finden praktisch in allen unseren alltäglichen Interaktionen statt. Wir stellen uns selber, dar, weil wir in dem Bewusstsein leben, beobachtet und gesehen zu werden. (vgl. Balsam 2010) Das Social Web bildet auch bei der Selbstdarstellung einen zusätzlichen Rahmen für die heutige Generation. Stieger (2015) betont, dass Menschen schon immer den Drag zur Darstellung der eigenen Person hatten. (vgl. ebd.) Die verfügbaren Ressourcen und damit die Art der Selbstdarstellung haben sich verändert. Wir stellen uns demnach im Social Web nicht aus purer Eitelkeit oder gar aus einer narzisstischen Veranlagung heraus dar, sondern vielmehr, um unsere Identität zu konstruieren, zu modifizieren und immer wieder neu zusammenzustellen.

Identität lässt sich definieren als die Fähigkeit, "dass jemand Ich sagen kann." (Schorb 2004, S. 81) Die stabilen Orientierungsangebote zur Identitätsfindung sind heute jedoch sehr limitiert und die "Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert werden." (Keupp 2000, S. 117)

Identität in der Postmoderne muss demnach verstanden werden, als eine kreative Eigenleistung, welche sowohl Freiheiten, als auch Unsicherheiten impliziert. (vgl. Sennett 1998) Das Social Web kann bei einer flexiblen Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen, unterstützend fungieren. Die Selbstdarstellung im Social Web sollte nicht so negiert werden. Weder ist das Phänomen der Selbstdarstellung etwas Negatives, oder gar Gefährliches, noch ist es etwas Neues, was durch das Web 2.0 erst entstanden ist. Denn, "Wir alle spielen Theater", Goffmann 1959, S. 67) unabhängig von den technischen und kulturellen Entwicklungen unserer Zeit.

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